© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 12/23 / 17. März 2023

Zeugin der Anklage
Nachlese: Zur Verleihung des Erich-Loest-Preises an die Schriftstellerin Ines Geipel
Thorsten Hinz

Es gibt eine Fülle lokaler und regionaler Literaturpreise in Deutschland, die von den überregionalen Medien nur am Rande wahrgenommen werden können. Um so auffälliger war das widersprüchliche Echo, das die diesjährige Verleihung des Erich-Loest-Preises an die Schriftstellerin, Publizistin und politische Aktivistin Ines Geipel fand. Auch die MDR-Dokumentation „Doping und Dichtung – Das schwierige Erbe des DDR-Sports“, in der es um Geipels Wirken ging, wurde breit in den Leitmedien rezipiert.

Der Preis, der von der Medienstiftung der Sparkasse Leipzig ausgelobt wird, gilt dem Andenken an den Schriftsteller Erich Loest (1926–2013). Loests Biographie ist eng mit Leipzig verbunden und zugleich paradigmatisch: ein gläubiger Hitler-Junge, Soldat, dann gläubiger, bald kritischer Sozialist. Von 1956 bis 1964 aus politischen Gründen inhaftiert, ging er 1981 in die Bundesrepublik; nach 1989 kehrte er in die sächsische Metropole zurück. Sein Memoirenbuch „Durch die Erde ein Riß“ ist zum tieferen Verständnis der Nachkriegsgeschichte unverzichtbar.

Der Preis hat demzufolge auch eine politische Implikation. Entsprechend heißt es in der Begründung: „Ines Geipel, erst umjubelte, später von der Stasi beobachtete Sprinterin und ‘Republikflüchtling’, ist bis heute eine der wirkmächtigsten Stimmen, wenn es um die Aufarbeitung des DDR-Regimes und auch der nationalsozialistischen Diktatur geht.“ Im Sommer 1989 flüchtete die gebürtige Dresdnerin über Ungarn in den Westen. Bekanntheit erlangte sie mit der Aufarbeitung des Doping-Systems in der DDR. Von 2013 bis 2018 war sie Vorsitzende des Doping-Opfer-Hilfevereins. In ihr Amt brachte sie die Autorität einer ehemaligen Hochleistungssportlerin ein, deren Laufbahn angeblich durch die Stasi sabotiert worden war.

Ihr Öffentlichkeitsbild faßte der Sender n-tv 2020 anläßlich ihres 60. Geburtstags so zusammen: „Zwangsdoping, ein illegaler Eingriff und Staatsschikane – als Leichtathletin in der DDR durchlebt Ines Geipel einen Horror nach dem anderen.“ Dem Schatten folgt das Licht: „30 Jahre Diktatur, 30 Jahre Freiheit: Für Ines Geipel sind es zwei Leben, die sie bisher gelebt hat.“

Juristischer Erfolg gegen den Deutschen Leichtathletik-Verband

Ihre Kritiker, darunter ehemalige Mitstreiter, werfen ihr vor, ihre Biographie geschönt, die Zahl der Doping-Opfer übertrieben und die eigene Person in den Mittelpunkt gestellt zu haben. Eine „Weltklassesprinterin“ sei sie nie gewesen. Sie habe wissentlich Doping-Mittel konsumiert und bis zur ihrer Flucht der SED angehört. Ihr Germanistikstudium in Jena – in der DDR ein Exklusivfach – zeige zudem, daß sie keineswegs als feindlich-negative Person eingeschätzt wurde.

Geipel reagierte in ihrer Leipziger Dankrede mit einer Attacke auf „die im Osten strategisch agierende Altkaderstruktur“, die eine „zunehmende Derealisierung von Geschichte“ betreibe und „zur Restauration des Systems im Osten“ blase. Im selben Sinne äußerte sich auch ihr Laudator Durs Grünbein, der von einer „Restauration Ost“ und einem „DDR-Revisionismus“ sprach.

Geipel hat unbestreitbare Verdienste. Sie ist Mitbegründerin des „Archivs der unterdrückten Literatur in der DDR“. Sie hat ein Buch über die lange unbekannte, tragische Existenz der Schriftstellerin Inge Müller (1925–1966), die durch Suizid geendete Ehefrau von Heiner Müller, veröffentlicht. Ein anderes Buch handelt von Beate Ulbricht, der „(Adoptiv-)Tochter des Diktators“ (2017), deren Ehe mit dem Sohn eines italienischen Kommunisten zerstört wurde. Verstoßen, verarmt, enterbt, verfiel sie dem Alkohol, landete in der Gosse, wurde 1991 erschlagen. Ein Schicksal, das ein Balzac, Flaubert, ein Julien Green sich düsterer nicht hätten ausdenken können.

Geipel beschweigt wortreich ihr Familientrauma

Geispels tatsächliche Medienprominenz aber hat den Ursprung im juristischen Erfolg gegen den Deutschen Leichtathletik-Verband, den sie 2006 zwang, einen unter Doping erzielten 4x100m-Staffelrekord zu streichen. Eine Frauenstaffel des SC Motor Jena, der sie angehört hatte, war 1984 mit 42,20 Sekunden durchs Ziel gegangen und hatte einen inoffiziellen Klub-Weltrekord aufgestellt. Die übrigen drei Läuferinnen waren bereits Teil der DDR-Nationalstaffel gewesen, die im Jahr zuvor mit 41,53 Sekunden den regulären Weltrekord markiert hatte. Die Vierte im Bunde war statt Geipel die superschnelle Rostockerin Marita Koch gewesen. Um bei DDR-Meisterschaften über 100 Meter ganz vorn mitzuspielen, waren Zeiten unter 11 Sekunden nötig. Geipels Bestzeit stagnierte bei 11,21 Sekunden, 1984 kam sie als Siebte ins Ziel. Ihre Sportkarriere, die sie nachträglich als Geschichte der Repression, der Sabotage und des Verzichts erzählt, hatte keine Erfolgsperspektive mehr.

Doch so genau wollte niemand es wissen, denn als in den östlichen Bundesländern und vor allem in Sachsen der Protest gegen Merkels Grenzöffnung die Straßen und Plätze füllte, war sie als berufene Ost-Autorität, genauer: als autochthone Zeugin der Anklage, hochbegehrt. Typisch für ihre Expertise war ein Welt-Interview von 2017: Der „Osten“ sei „eine Petrischale der Gewalt“, ein „Wasteland“, wo „irre Gewaltlust“ und „Ostrassismus“ herrschten. Er habe „75 Jahre lang geschwiegen und verlegt sich mittlerweile aufs Krakeelen“. Dresden sei ein Ort der „blökenden Männer mit ihren geschwollenen Halsschlagadern“, dort erlebe man die „Kontinuität all der Enthemmungen“. Pegida sei ein „völkisches Revival“, „etwas zwischen Kitschkommunismus und stockbraunem Gedöns. Als ob die Söhne die Sätze ihrer Großväter und Väter aus ihren Körpern herausschrien und erst damit aufhörten, bis wirklich alles draußen war.“

Die überschnappende Wortwahl zeugt von starken Affekten und Überforderung. Geipels Versuch, eine Tiefenpsychologie der Ex-DDR zu liefern, scheitert grandios. Leser äußerten sich verwundert darüber, daß „die Frau nicht kapiert hat, daß die Leute im Osten sehr viel sensibler auf Demokratieabbau und Führungsstil ‘von früher’ reagieren“. Bis heute hat sie nicht begriffen, daß ihre öffentliche Funktion darin besteht, diese Sensibilität, aus dem der Widerstand erwachsen ist, zu pathologisieren, zu delegitimieren und den brüchigen Offizialdiskurs zu befestigen. Den Funktionären dieses informellen Auftrags trägt sie Preise, Stipendien, Einladungen zu Interviews, Talkshows, Podiumsdiskussionen, Lesungen und freundliche Rezensionen ein. 

Laudator Durs Grünbein hat ihn sich gleichfalls zu eigen gemacht. Über Geipel sagte er: „Ich kenne kaum eine andere Autorin der Nachwendeliteratur, die ihren eigenen historischen Erfahrungsraum in ihren Studien so konsequent ausmißt (auch ausmistet), und dies aus persönlicher Anschauung.“ 

Das dürfte vor allem auf ihr Buch „Umkämpfte Zone. Mein Bruder, der Osten und der Haß“ (2019) gemünzt sein, in dem Geipel – nach dem Vorbild von Christa Wolfs „Störfall“ – den Zustand des „Ostens“ mit dem lebensbedrohlichen Hirntumor des Bruders verbindet. Im Kern handelt es sich um eine schreckliche, traumatische Familiengeschichte. Geipels Vater war Parteifunktionär, Stasi-Mann, Auslandsagent, zur Gewalt neigend. „Wir mußten durch die Realität eines enthemmten Mannes, Vater, der verdeckte Krieger. Es war das Stasi-Prinzip jener Jahre.“

Diese zwei Schlüsselsätze enthalten Geipels verfehlten hermeneutischen Ansatz. Die Verbindung zwischen dem familiär induzierten Kindheitstrauma und dem Unterdrückerstaat bleibt eine unbewiesene Behauptung, weil Geipel die konkrete Trauma-Ursache so konsequent wie wortreich beschweigt. Um es zu bewältigen, projiziert sie das Verdrängte auf den Staat und verfehlt damit beides. Auf Seite 114 ist zu lesen, sie und ihr Bruder seien jahrelang „die Stechpuppen des Vaters, seine Trainingsobjekte“ gewesen. Wenn die Metaphern überhaupt einen Sinn haben, ist damit wohl ein sexueller Mißbrauch angedeutet, der für den Osten genauso typisch oder untypisch war wie für den Westen. In der Rezension der JUNGEN FREIHEIT  hieß es: „Deshalb ist ihr Buch ein Dokument des Ressentiments und nicht der Analyse. Seine Erhebung zum Wunderbuch über den Osten bedeutet einen weiteren Gewaltakt gegen ihn!“

Die „Bewältigung“ der DDR bildet längst einen eigenen Industriezweig, in dem ein bitterer Konkurrenzkampf tobt. Es gibt Erbhöfe, abgesteckte Deutungsbezirke, Beziehungskisten, Eifersüchteleien, Intrigen. So wurde Geipels Stasi-Akte, die eine Opfer-Akte ist, gegen Recht, Gesetz und Anstand an die Öffentlichkeit durchgestochen. Trotzdem ist nicht automatisch ein DDR-Nostalgiker, wer ihr widerspricht. Ihre Zeugenschaft wider die Ost-Länder hat in der Debatte um den Erich-Loest-Preis arg gelitten. Vor allem aber ist die Anklage, die sie bezeugt, historisch überholt. Denn was heute „DDR 2.0“ genannt wird, ist kein Werk alter Stasi-Seilschaften, sondern der Systemkollaps West.