© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 12/23 / 17. März 2023

Was ist Glück?
Im Einklang mit sich selbst: Von der Freiheit, den Zumutungen der aufgeregten Zeit zu entfliehen
Eberhard Straub

Was ist der Erde Glück? – Ein Schatten! / Was ist der Erde Ruhm? – Ein Traum!“ Mit diesen Worten resümierte Grillparzers Medea 1821 sämtlichereuropäische Überlegungen zum Glück der Menschen in dieser Welt voller Täuschungen und Lügen. Mit solchen Vorstellungen will der Weltglückstag, der auf Geheiß der Vereinten Nationen am 20. März stattfindet, nichts zu schaffen haben. Denn das Glück läßt sich in Zeiten, die alles unter ökonomischen Gesichtspunkten betrachten sollen, planen und erwirtschaften. Der sogenannte Westen versteht sich als eine Wertegemeinschaft, in der Werte, wie in einer Glücksgemeinschaft der Fortuna, immer in Bewegung sind und je nach den Vorteilen, die sie verheißen, aufgewertet, abgewertet, umgewertet oder entwertet werden. Jeder muß sehr genau achtgeben, im dauernden Wertewandel nicht den Anschluß an die allerneuesten Erwartungen zu verpassen und wie ein auslaufendes Modell beiseite geschoben zu werden. Jeder ist seines Glückes Schmied, seines beruflichen Erfolgs und Fortkommens. So heißt es im Sprichwort.

Dieses praktische Ziel, das mit berechnender Weltklugheit verbunden ist, hat freilich nichts mit einem sittlich gelungenen Leben zu tun, mit der felicitas, dem inneren Glück, das beständig ist, wenn der Mensch danach trachtet, nicht nur eine beliebige Phantasie der Zeit zu sein, sondern sich darum bemüht, den Dingen Dauer zu verschaffen, indem er sich um das Wesentliche kümmert. Das Streben nach Reichtum und Anerkennung hängt bei aller persönlichen Vernunft und Sorgfalt mit der launischen Fortuna zusammen, die wechselnd wie der Mond in verschiedener Gestalt erscheint, von vorne verlockend und schmeichelnd, von hinten garstig und abschreckend. So wurde sie oft dargestellt. Die Unwägbarkeiten der flatterhaften Fortuna lassen sich freilich durch Hapiness-Management überwinden, sobald jeder, erfüllt von dynamisierendem Wertebewußtsein, an sich arbeitet im Sinne des rundum aktivierenden HERO-Prinzips: mit hope, efficacy, resilience und optimism, was meint, im Arbeitsalltag Leistung und Organisationsstärke zu beweisen, das Beste aus sich herauszuholen und im kreativen Team andere mitzureißen und seine Popularität oder Beliebtheit zu steigern.

Diese Selbstverwirklichung ermöglicht gute Gefühle und eine ansteckende Bereitschaft aller, ihr Glück in der gut funktionierenden Wertegemeinschaft zu finden, also leistungsstark und der Zukunft zugewandt zu bleiben und jeweils das Seine zum positiven Wertewandel beizutragen: Wohlstand für alle. Chancengleichheit sämtlicher Geschlechter und Umweltbewußtsein, damit aus dem Bruttonationalglück ein allgemein menschliches wird und die Westliche Wertegemeinschaft in einer universalen Produktionsgemeinschaft totalen Wohlbehagens an das Ziel ihrer Wünschbarkeit gelangt.

Ein solches Programm hatten Schiller, Hegel, Goethe oder Marx als die totale Entfremdung des Menschen von sich und seiner Bestimmung verworfen, nämlich nicht gute Geschäfte zu machen, sondern frei zu werden. Der Spanier José Ortega y Gasset erinnerte daran immer wieder im vergangenen Jahrhundert, am eindringlichsten in seinen Studien „Der Intellektuelle und der Andere“ sowie „Der Mensch und die Leute“. Das Glück hielt er für einen Traum, dem sich allerdings als einziges Wesen unablässig nur der Mensch hingibt, der vermißt, was er nie besessen hat, all das, was wir Glück nennen. Darin erkannte Ortega y Gasset die Beschaffenheit des Menschen, dessen Heimweh nach dem unbekannten Glück, das ihn zum einzigen unglücklichen Wesen mache, weil er das Glücklichsein braucht und es nötig hat, das zu sein, was er nicht ist. Sein Unglücklichsein und die Sehnsucht nach Glück verweisen ihn auf sich selbst. In sein Inneres versenkt lebt der Mensch in einer Phantasiewelt, in der er sich zum Traum wird mit der Idee, die er dort von sich gewinnt, nämlich zu werden, was er sich träumt zu sein. Doch Leben erfüllt sich im Zusammenleben. Das Ich wird dauernd abgelenkt von den anderen. Deshalb ist das Leben von vornherein dramatisch, weil jeder sehen muß, wie er mit sich zu Rande kommt, ohne zum Opfer der anderen und der Welt zu werden, in der zu leben er genötigt ist. 

Die Seele davor bewahren, vom Strudel des Nichtigen überwältigt zu werden 

Der Mensch muß nicht nur zur Freiheit in der Zeit, sondern vor allem auch zur Freiheit von der Aktualität und der Anmaßung der flüchtigen Zeit gelangen, die mit ihrem wirren Wesen es jedem erschwert, zu sich zu kommen. Wer sich nicht verfehlen und verlieren will im Lärm der aufgeregten Zeit wurde deshalb gemahnt, in seinem Inneren sein ganz eigenes Weltgetümmel zu veranstalten und sich dafür zumindest vorübergehend aus der Geschäftigkeit des Zusammenlebens mit den anderen zu lösen.

Glücklich ist jener Mensch, wie der Römer Horaz über die Jahrhunderte den unruhigen Gemütern einprägte, der nicht zum Schlachtopfer des Fleißes wird und sich um sein Vermögen und seinen Erfolg sorgt, sondern frei von den äußeren Zwängen sich zum wahren Menschen bildet und mit seiner Person die Würde des Menschen herzbezwingend veranschaulicht. Diese Freiheit beruht auf dem inneren Frieden, der die Seele davor bewahrt, vom Strudel des Nichtigen überwältigt zu werden. Diese Freiheit beruht auf Tugenden, etwa der Besonnenheit, der Standhaftigkeit, dem Sinn für Gerechtigkeit und tapferer Entschlossenheit. Sie befähigen den Einzelnen dazu, in die Welt der Täuschungen einzugreifen, um deren Verworrenheit zu enttäuschen und möglichst wirkungslos zu machen. Auf diesem Weg gelangt jeder Einzelne, wenn er nur will, zu einem gelungenen Leben, zu einer inneren felicitas, zu einem sanften Glück unabhängig von der Fortuna mit ihren falschen Verheißungen. 

Deswegen riet Christus der geschäftigen Martha, dem Beispiel ihrer Schwester zu folgen, nämlich auszuruhen und sich darauf zu besinnen, was zum Heil notwendig ist, zur Ökonomie des Glückes, einer heilsamen inneren Hausordnung des Gleichgewichtes zwischen Tun und Besinnlichkeit, Denken und Handeln. Die Sehnsucht nach diesem 

Gleichgewicht lenkt des Menschen Wünsche wieder zu den anderen, in der Hoffnung Freunde zu finden, mit denen er gemeinsam die fremde und ungastliche Welt in eine Heimat umwandeln kann. Insofern kommt aus der Selbstversenkung und Einsamkeit des Menschen sein Bedürfnis nach Liebe, nach Geselligkeit. Beides bedarf der Ruhe, der Muße, der Zeitverschwendung, um sich wohltätig auswirken zu können. Es war also nie müßig, den Menschen zur Muße zu befähigen. Sittliche Kräfte als Bildungsmächte sind etwas anderes als soziale Kompetenz, die sie jetzt ersetzen sollen. Soziale Kompetenzen sind Techniken, die dem nützlich sind, der in der Welt als berechenbare Maschine gut funktionieren soll. Sie haben nichts mit dem inneren Reich des Einzelnen zu tun. Das steht vielmehr im Verdacht, dem Einzelnen dabei im Wege zu stehen, sich in vielen Funktionen zu bewähren, ob als Verkehrsteilnehmer, Verbraucher, Wähler oder Lebensabschnittspartner. 

Die Gesellschaft formt den Einzelnen zu einem Abbild ihrer selbst 

Der Einzelne muß Kategorien entsprechen, um ihn als Teil des sozialen Systems kenntlich machen zu können. Solche Planspiele verändern die Bedeutsamkeit von Einsamkeit, Innerlichkeit, der Muße und der Glückserwartung. Selbstgenügsame Privatheit hat für wahrhafte und wehrhafte Demokraten jede Würde eingebüßt. Sie gilt als Ausdruck unpolitischer Verspieltheit und schlechten Sozialverhaltens. Ja, ein Bürger, der nicht überall genau hinschaut und aufmerksam zuhört, weil auf der Suche nach Wahrheit mit Philosophen und Kirchenlehrern, Dichtern oder Dramatikern, gerät in den Verdacht ein unzuverlässiger Demokrat zu sein. Er leugnet, wie es dann heißt, die frohe Botschaft der Wertegemeinschaft, daß der Mensch nur dann zu sich gefunden habe, wenn er sich unermüdlich als aufgeschlossener Sozialpartner betätigt, der Glück und Wohlbehagen gewinnt, indem er sich entschlossen um das allgemeine Wohl kümmert und moralischen Nutzen daraus zieht, sich anderen nützlich zu machen. Außerhalb der Gesellschaft oder auch nur an deren Rande gibt es für überzeugte Demokraten kein Heil und kein Glück. Für sich alleine bedeutet der Einzelne wenig oder nichts, obschon ununterbrochen von der Würde des Menschen und der Menschenrechte geredet wird.

Die Gesellschaft, der große Schöpfer, Motor, Wandler oder Vollender, erlöst den Einzelnen von dem mittlerweile klassischen Irrtum, nichts zu entbehren oder verloren zu haben, solange er nur sich selbst besitzt. In ihr und mit ihr wird er zu dem, was er sein soll, zum Abbild der Gesellschaft. Darin liegt seine Würde. Überzeugte Demokraten dürfen deshalb jeden politischer wie menschlicher Unzulänglichkeit zeihen, der nicht teilnehmen mag an dem, was alle tun. Früher hieß es, der Mensch müsse sich selbst erkennen und seine Seele im einsamen Gespräch mit Gott retten. Die Welt stand damals im Verdacht, ihn von sich selbst abzulenken und ihn mit ihrer Geschäftigkeit zu täuschen. In der demokratischen Gesellschaft wird hingegen jeder dazu angehalten, sich nach außen, in die Welt zu begeben, um zu sich zu finden und sich in ihr zu „verwirklichen“. Nicht einmal die Kirche möchte den Einzelgänger vom Stigma des unsozialen Betragens befreien. Auch sie besinnt sich nur noch ungern darauf, daß Martha einst von Christus geraten wurde, sich nicht um alles und jedes zu kümmern, eben nicht politisch zu leben. 

Das demokratische Glücksversprechen stellt keiner in Frage, gerade das zu schaffen, was ihm widerspricht: Einsamkeit als innere Leere und Langeweile, Phänomene, die als sehr zeitgemäße oft genug erörtert werden.  Die demokratische Gesellschaft stellt alles zur Diskussion außer ihrem Grundsatz, sie sei allein dazu in der Lage, 

eine heitere Organisa-tion gleicher Menschen zu schaffen, in der alle glücklich werden können.  Dennoch entbehren viele das Glück. Früher erwarb sich einer sein Ansehen, weil er Zeit hatte und sich Zeit ließ, um als freier Mensch unabhängig und nach eigenem Ermessen über sich und seine Zeit verfügen zu können. Schiller und deutsche Humanisten hielten es für unvereinbar mit der sittlichen Bestimmung des Menschen, sein Glück darin zu suchen, als Mittel für die Zwecke anderer verwertet zu werden. Gerade das, was sie entsetze – daß der Mensch zu einem Präzisionsinstrument erzogen und dadurch entwürdigt würde –, ist längst die Voraussetzung, um in einer rationalisierten, digitalisierten und mechanisierten Arbeitswelt von Computern und Robotern einsatzfähig zu bleiben. Der Mensch als Bruchstück, ewig nur das Geräusch des Rades im Ohr, das er umtreibt, gelangt nicht mehr zur Harmonie seines Wesens, wie Schiller fürchtete. Er bleibt immer nur Ausdruck seines Geschäftes. 

Selbst die erwünschte Kreativität bleibt ganz und gar den Arbeitsprozessen verhaftet, in die man sich voll einbringt. Immer in Spannung zu sein weckt ungeahnte Potentiale, weil der Beruf spannend ist; Spannung aktiviert dazu, sich im Beruf ganz und gar auszuleben. Das nannte man unlängst noch Entfremdung. Es ist kein Wunder, daß unter solchen Bedingungen immer weniger Zeitgenossen es auch nur eine halbe Stunde mit sich allein in einem Zimmer aushalten, ohne über Radio, Fernsehen, Handy oder andere Geräte mit der Außenwelt verbunden zu sein. „Da, wo du nicht bist, ist das Glück“, wie Georg Philipp Schmidt 1821 resigniert bemerkte. Franz Schubert fand dafür in seinem Lied „Der Wanderer“ die angemessenen Töne. Daran ändert auch ein Weltglückstag nichts.