Seit Wochen halten Proteste Mecklenburg-Vorpommern in Atem. Der Grund: die Asylpolitik der Bundesregierung und die Umsetzung durch die Länder und Kommunen. Immer mehr Asylbewerber werden auf selbst kleinste Dörfer verteilt. Allein der Souverän – der Bürger – wurde nicht gefragt. Womit die Politiker nicht gerechnet haben: Die Einwohner gehen auf die Straßen, vernetzen sich von Dorf zu Dorf. Sei es in Upahl, in Schwerin, Dorf Mecklenburg oder in Gadebusch.
Der Weg zum Haus von Anja Renn ist etwas verzwickt. „Ich schicke ihnen lieber meinen Standort per Google, dann finden sie mich einfacher“, sagt die Behindertenbetreuerin am Telefon. Der sanierte Bauernhof liegt am Rande von Gadebusch, einer 5.500-Seelen Stadt im Landkreis Nordwestmecklenburg. Doch jetzt ist Renns Hof mit dem großen schweren Holztisch in der Diele und den vielen Stühlen drum herum das Zentrum des Widerstandes von Gadebusch gegen die Containerunterbringung von 150 Flüchtlingen geworden. „Ich habe vier Kinder, drei Mädchen, einen Jungen. Glauben sie im Ernst, daß ich die noch alleine lassen kann in meinem Haus?“, fragt sie. „Glauben Sie, daß ich die alleine zum Einkaufen schicken kann? Oder zur Schule?“
1.700 Unterschriften gegen ein Flüchtlingsheim
Während sie das sagt, schaut sie sorgenvoll auf eine ihrer Töchter. Das kleine Mädchen mit den langen blonden Haaren schleppt sichtlich stolz eine der vier Hauskatzen durchs Wohnzimmer. Und die läßt den kindlichen Liebesbeweis altersmilde über sich ergehen. Die Ängste einer Mutter. Vielleicht engagieren sich deshalb so viele Frauen zur Zeit bei den Demonstrationen in Mecklenburg-Vorpommern. In Upahl ist der Motor des Protestes Annika Reisch, die ein Versicherungsbüro im Gewerbegebiet hat. Das liegt vis à vis des Geländes, auf dem Container für 500 Flüchtlinge entstehen sollen – bisher ohne Baugenehmigung. Wobei in der Causa Upahl gerade das Verwaltungsgericht einen Baustop verhängt hat. Eben mit der Begründung, daß die Kommune in die Planung nicht einbezogen wurde.
In Dorf Mecklenburg trat jüngst der Bürgermeister zurück. „Irgendwann ist Schluß“, kommentierte Burkhard Biemel, ehrenamtlicher Bürgermeister der Gemeinde Dorf Mecklenburg (Landkreis Nordwestmecklenburg) gegenüber der JUNGEN FREIHEIT seinen Entschluß. „Die Flüchtlingspolitik sowohl des Bundes, als auch des Landes kann ich nicht mehr mittragen.“
Die JUNGE FREIHEIT fragte das Innenministerium, wie viele Demonstrationen es im Februar in Mecklenburg-Vorpommern gegeben habe? Die Antwort: „Im Monat Februar wurden 13 Versammlungen im Sinne der Fragestellung polizeilich bekannt und begleitet. An den Versammlungen nahmen zwischen 8 und ca. 560 Personen teil. Insgesamt ca. 2.650 Personen. Die Versammlungen fanden in Gadebusch, Grevesmühlen, Grimmen, Pasewalk, Schwerin, Teterow, Upahl und Wismar statt.“
In Gadebusch begann der Protest durch einen Zeitungsartikel. „Ich las in der Schweriner Volkszeitung, das war Anfang Februar, daß unser Landrat Tino Schomann zu einem Bürgerdialog kommen wollte“, sagt Annett Hinkfuß. „Thema sollte unter anderem die Ansiedlung von 150 Flüchtlingen, wohl nur junge Männer, bei uns sein. Da dachte ich, da muß etwas passieren, dagegen müssen wir vorgehen.“
Innerhalb von nur zwei Wochen sammelte die selbständige Friseurin 1.700 Unterschriften gegen den Bau der Unterkunft. Die Unterschriften übergab sie am 15. Februar beim Bürgerdialog dem CDU-Landrat Schomann. „Dieser Dialog war ja auch eine Farce“, sagt die dritte im Bunde der Organisatorinnen von „Gadebusch wird laut“, Doreen Meinke. „Denn der Raum in der Feuerwehr war viel zu klein, da passen nur 140 Leute rein.“ So mußten knapp 300 Einwohner draußen stehenbleiben. „Dabei haben wir einen großen Saal in der Stadt, der 1.200 Menschen faßt“, sagt Renn. Sie vermutet, „daß die das extra so klein konzipiert haben, damit nur wenige zuhören können“.
Doch bei der Unterschriftensammlung sollte es nicht bleiben. Die Frauen sammelten Argumente und Informationen durch Vernetzungen im Internet, zum Beispiel über interne WhatsApp-Gruppen. „Gadebusch“, sagt Renn, „ist von der Infrastruktur gar nicht in der Lage so viele weitere Menschen aufzunehmen.“ Sie rechnet vor: „Wir haben keine Lehrer.“ Sie vermutet, daß deshalb die örtliche Förderschule aufgelöst werden soll. „Wir haben keine Dolmetscher. Wir haben keine Skaterbahn mehr. Unsere medizinische Versorgung ist grenzwertig“, sagt Renn. Und sie zählt auf: „Wir haben zwei Hausärzte, einer ist 50, der andere 60 Jahre alt. Dann haben wir noch zwei Ärzte, die sind zwar Rentner, aber praktizieren weiter. Und dann wäre da noch eine Doppelpraxis, zwei Frauen, die haben allerdings einen Patienten-Aufnahmestop.“
Auch der Standort ist problematisch: Die Container sollen auf den Hof des Polizeireviers. „Das Gelände gehört dem Land“, sagt Renn. „Es bräuchte eine zweite Zufahrt, und dafür müßte ein Teil des Buchenwaldes dort abgeholzt werden. Der gehört der Stadt.“
Doch nicht alle Anwohner unterstützen die Frauen. „Klar, wir werden auch kritisiert“, sagt Meinke. „Ein ehemaliger Erzieherkollege von mir, mit dem ich gut und lange zusammengearbeitet habe, sprach mich vor kurzem an. ‘Du bist das, die mit dem Autocorso unterwegs ist?’, fragte er mich. Ich sagte: ‘Ja.’ Da sagte er: ‘Wie kannst Du nur?’ Daß ich Angst um meine Kinder habe, wollte er nicht gelten lassen.“
Im Internet werden die Gegner der geplanten Unterkunft angefeindet. Auf der Facebookseite des gemeinnützigen Vereins Kultur und Toleranz e.V. Gadebusch ist ein Artikel über den Bürgerdialog im Feuerwehrhaus zu lesen. Er beschreibt ein „schreckliches Szenario“, sichtet „junge, aber auch ältere bekannte Neonazis“ und bezweifelt die Aussagen von Frauen, die „angeblich“ verängstigt seien. Der Text endet wie folgt: „Ihr seid nicht das Volk, ihr seid nicht die Masse, ihr seid scheiß Rassisten, wie sehr ich euch hasse!“
Doch die drei Frauen stört das nicht. „Wenn du bei dem Autocorso durch die Stadt fährst und dir eine alte Frau vom Balkon aus mit zwei Daumen hoch ihre Zustimmung zeigt, dann steigen mir die Tränen in die Augen“, sagt Renn.
Plattenbau in Schwerin: Armut, Arbeitslosigkeit und Kriminalität
Das Kabinett Schwesig besteht aus SPD und Linken. Ministerpräsidentin Manuela Schwesig regiert mit 43 Sitzen, die absolute Mehrheit liegt bei 40 Sitzen. Das Regieren hätte also sehr bequem werden können. Um so mehr wundert es, daß sich jetzt landesweit der massive Protest in Mecklenburg-Vorpommern entwickelt.
„Inhaltliche Diskussionen, zumal die politische Frage und der Umgang mit der Migration, standen doch niemals im Vordergrund dieses Wahlkampfes“, sagt Jan-Phillip Tadsen. Der Politologe ist stellvertretender Fraktionsvorsitzender der AfD im Landtag und unter anderem migrationspolitischer Sprecher der Fraktion. „Was die Leute aktuell auf die Palme bringt, ist die Ignoranz der Politik. Die Asylanträge sind im Jahr 2022 von 1.600 auf 4.800 gestiegen.“ Insgesamt sind 7.095 Asylbewerber zur Zeit im Land, dazu kommen 22.959 ukrainische Kriegsflüchtlinge. „Die Kommunen sind vollkommen überfordert, das sieht doch der Bürger. Die Politik muß zwingend eine Lösung finden.“ Sonst drohe, so Tadsen, eine „Entfremdung gewisser Bevölkerungsteile vom demokratischen System.“ Wie diese Lösung aussehen könnte, hatte Ministerpräsidentin Schwesig auf einem Flüchtlingsgipfel, zu dem sie die Kommunalverbände in die Staatskanzlei geladen hatte, am Donnerstag mit ihnen diskutiert. Es sei heiß her gegangen, berichtete die Schweriner Volkszeitung. Man einigte sich darauf, daß das Land die Kommunen mit 428 Millionen Euro unterstützen wolle. 2020 seien es noch 200 Millionen Euro gewesen, 2021 stieg der Betrag auf 306 Millionen Euro Steuergelder.
Doch wie die Kommunen Platz schaffen sollen, bleibt unbeantwortet. Schon vor dem Gipfel hatten die Kommunalverbände gefordert, die Erstaufnahmekapazitäten auszuweiten – von 1.700 Plätzen auf 4.700. Der Zuzug der Flüchtlinge verschärft nicht nur auf dem Land, sondern auch in der Stadt die Probleme, die eh schon seit der Wende bestehen. „Wir hatten in Schwerin einmal 130.000 Einwohner“, sagt AfD-Stadtvertreter Steffen Beckmann, „heute sind es noch 96.000 und immer noch wandern Jugendliche und Frauen weg.“
Doch mit der Abwanderung wurde kein Wohnraum frei, denn um die Mietpreise nicht ins Bodenlose sinken zu lassen, wurden Plattenbauten abgerissen. Durch den Wegzug ergibt sich in Schwerin ein weiteres Problem: die meßbare räumliche Aufteilung in arm und reich. „Diese Segregation ist in Schwerin auffallend“, sagt Beckmann. „Die Armut ballt sich in den Plattenbaugebieten.“ Eine Untersuchung im Auftrag des Landesministeriums für Infrastruktur ergab 2020 einen Segregationsindex für Schwerin von über 45, in westdeutschen Städten läge er durchschnittlich bei 25.
Die Armutsballung sei besonders stark in den Plattenbaugebieten Großer Dreesch (13,4 Prozent arbeitslos), Neu Zippendorf und Mueßer Holz (17,8 und 24 Prozent arbeitslos), Tendenz steigend. Der Ausländeranteil in Neu Zippendorf beträgt 20 Prozent, der im Mueßer Holz 30 Prozent. Dazu kommt nun eine hohe Kriminalitätsbelastung. Beckmann: „Im Ranking stehen wir auf Platz 18, gleichauf mit Hamburg.“ Es sind genau die Entwicklungen, die die Frauen in Gadebusch befürchten. Renn will sich, sollte das Containerdorf kommen, zu ihrer Bordeauxdogge noch zwei weitere Hunde anschaffen. „Einen Rotti und einen Dobermann“. Aber bis dahin wird weiter demonstriert. „Und jetzt haben wir eine Bürgerinitiative gegründet“, sagt Renn. Wie charakterisierte Tadsen nochmal den Mecklenburg-Vorpommer? „Die sind kernig, hier wird schnell Klartext gesprochen und die lassen sich nicht von politischen Korrektheiten beeinflussen.“