Fast eine Dreiviertel-Billion Euro will die EU als Corona-Wiederaufbauhilfen an die 27 Mitgliedsländer verteilen. Die dafür geschaffene „Aufbau- und Resilienzfazilität“ (ARF) nennt sie das „Herzstück“ ihres 2021 angelaufenen Programms NextGenerationEU (NGEU). Nicht weniger als 724 des insgesamt 807 Milliarden schweren Programms sollen über den ARF verausgabt werden. Davon sind 386 Milliarden als Darlehen und 338 Milliarden Euro als nicht rückzahlbare Zuschüsse vorgesehen.
Das sind schwindelerregende Zahlen. Zum Vergleich: Der reguläre EU-Haushalt für sieben Jahre liegt in der Größenordnung von 1.200 Milliarden Euro, und der Bundeshaushalt 2023 hat ein Volumen von 476 Milliarden Euro. Deutschland erhält von den ARF-Zuschüssen nur 25,6 Milliarden Euro (304 Euro pro Kopf). Das sind ganze 7,6 Prozent, obwohl wir fast ein Viertel der EU-Finanzierung tragen. Üppiger wird Frankreich bedient, das 11,7 Prozent (39,4 Milliarden/584 Euro pro Kopf) erhält. Griechenland erhält 17,8 Milliarden Euro – das sind unglaubliche 1.667 Euro pro Einwohner. Auch Spanien, Portugal und Italien erhalten weit über tausend Euro pro Einwohner.
Aber solche Ungleichgewichte sind in der EU üblich. Schlimmer ist, daß diesmal nicht einmal die ordnungsgemäße Verwendung der Mittel sichergestellt erscheint. Normalerweise wacht die EU selbst darüber und pocht etwa auf eine EU-weite Ausschreibung der Projekte. Diesmal kann von effektiver Kontrolle keine Rede sein. Brüssel verläßt sich ganz auf die Empfängerländer, die nur bestimmte „Etappenziele“ in ihren nationalen Aufbauplänen erreichen müssen. Das klingt unbürokratisch, denn das Nebeneinander von nationalen und EU-Vorschriften bringt Behörden und Unternehmen schon lange an ihre Grenzen. Warum also nicht zweistufig vorgehen: Die EU kontrolliert nur die zu erreichenden Ziele, die Umsetzung vor Ort obliegt dagegen den Nationalstaaten.
Die Realität sieht anders aus. Die nationalen Ziele werden von den Mitgliedstaaten weitgehend selbst definiert. Im Zweifel setzt man sie so bescheiden, daß sie auf jeden Fall erreicht werden. Inwieweit das dann tatsächlich den EU-Mitteln zu verdanken ist, läßt sich erfahrungsgemäß kaum überprüfen. Zudem sind bei Zielverfehlungen auch keine gravierenden Konsequenzen vereinbart. Bestenfalls muß man auf die nächste Tranche dann eben etwas länger warten. Das Ganze läuft damit mehr oder weniger auf ein weiteres Transfer-System hinaus. Ohnehin fragt man sich, was nach Corona „wieder aufgebaut“ werden muß.
Schwieriges Nebeneinander von nationalen und EU-Vorschriften
Bei genauerem Hinsehen erweisen sich die Programme als ein Sammelsurium von Projekten, die mit Corona-Schäden wenig zu tun haben. Wenig überraschend stehen „Klimaschutz“ und „Digitaler Wandel“ mit bisher zwei Drittel der beantragten Mittel dabei im Vordergrund. Viele der von der EU gesponserten Einzelprojekte dürften ohnehin geplant gewesen sein und werden jetzt nur anders finanziert – Mitnahmeeffekt nennen das Ökonomen.
Weitere „Säulen“ des ARF sind wirtschaftlicher Zusammenhalt, Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit, sozialer und territorialer Zusammenhalt, Gesundheit und wirtschaftliche, soziale und institutionelle Resilienz sowie Maßnahmen für die „nächste Generation“. Es dürfte schwerfallen, irgendein Projekt zu finden, das sich nicht irgendwie in diesem Rahmen unterbringen ließe. Trotzdem hat die EU-Kommission in bewährter Weise bereits ausrechnen lassen, wie stark das Programm das Wirtschaftswachstum ankurbeln werde.
Demnach soll etwa in Deutschland das BIP im nächsten Jahr um gut ein Prozent höher ausfallen als ohne den EU-Geldsegen. Wir bekommen davon zwar nur wenig ab, profitieren aber angeblich von „Spillover-Effekten“. Im Klartext: Deutschland finanziert einmal mehr andere Länder dafür, daß sie bei uns einkaufen, man soll sich dann über den zusätzlichen Exportumsatz freuen. Man kennt solche Berechnungen aus anderen EU-Programmen – außer in Deutschland selbst dürfte sie niemand wirklich ernst nehmen.
Der Europäische Rechnungshof (EuRH) moniert zudem erhebliche Mängel bei der Vorsorge gegen Mißbrauch und Korruption. In einer Presseerklärung vom 8. März warnt er vor einer „Lücke beim Schutz der finanziellen Interessen der EU“. Es geht schließlich nicht um Peanuts, sondern um gigantische Beträge. Die Bürger der EU werden aber „neuartigen EU-Finanzierungen nur dann Vertrauen entgegenbringen, wenn sie sicher sein können, daß ihr Geld ordnungsgemäß ausgegeben wird“, erklärte EuRH-Präsident Tony Murphy.
Schon bei bisherigen EU-Projekten lag die Mißbrauchsquote zwischen drei und fünf Prozent, trotz penibler Kontrollen durch die Brüsseler Bürokraten. Bei dem jetzigen, viel lascheren Verfahren dürfte sie wohl deutlich nach oben schnellen, oft ohne daß es überhaupt bemerkt wird. Für Deutschland kommen die aus dem ARF resultierenden Belastungen zur Unzeit. Denn auch der Bundesrechnungshof (BRH) schlägt Alarm: Die Bundesregierung drohe die Kontrolle über ihre Finanzen zu verlieren (JF 11/23). Noch nie seien so viele Schulden in so kurzer Zeit aufgenommen worden wie derzeit.
Unzulässiges Instrument außerhalb des eigentlichen EU-Haushalts
„In über 70 Jahren Bundesrepublik hat der Bund Schulden von rund 1,3 Billionen Euro angehäuft, mit allen Krisen dieser sieben Jahrzehnte und auch der Wiedervereinigung. Dieser Schuldenberg wächst durch die Beschlüsse der letzten drei Jahre noch einmal um 60 Prozent auf mehr als 2,1 Billionen Euro massiv an“, mahnte BRH-Präsident Kay Scheller. Zudem gebe es kaum noch Entscheidungsspielräume, weil ein viel zu hoher Anteil der Bundesausgaben bereits fest gebunden ist. Die „Flucht in die Sondervermögen“ hatte der Rechnungshof schon vorher mehrfach scharf kritisiert, denn sie schade der Transparenz und umgehe die Schuldenregeln.
Damit schließt sich der Kreis zur EU, denn auch der ARF ist ein eigentlich gar nicht zulässiges Instrument außerhalb des eigentlichen siebenjährigen EU-Haushalts. Aber Haushaltsrecht und fiskalische Grundsätze gelten in der Politik offenbar nichts mehr. Auch grundsätzlich ist der NGEU-Fonds fragwürdig. Erstmals verschuldet sich die EU als Ganzes.
Prof. Dr. Ulrich van Suntum lehrte von 1995 bis 2020 Volkswirtschaft an der Universität Münster.