Warum stehen Sie hier? Gleich mehrere Polizisten bauen sich vor der Frau auf, die stumm auf dem Gehweg steht. Als sie sagt, sie stehe hier wegen der nahen Abtreibungsklinik, fragt einer der Polizeibeamten: „Protestieren Sie, beten Sie?“ Die Frau verneint, daß sie protestiere; sie sagt aber, es könne sein, daß sie still in ihrem Kopf gebetet habe. Daraufhin wird sie festgenommen und abgeführt.
Schon zum zweiten Mal ist Isabel Vaughan-Spruce nun in Birmingham verhaftet worden, weil sie auf der Straße stumm gebetet hat. Die 45jährige hatte die Hände in den Manteltaschen, die Augen geschlossen. Sie hat niemanden belästigt oder angesprochen. Allein der Verdacht, daß sie bete, reichte den Polizisten für eine Verhaftung. Die Begründung: Sie habe eine 150-Meter-„Pufferzone“ um die Abtreibungsklinik verletzt, innerhalb derer Proteste verboten sind. Diese Sperrzonen führte das Parlament vor einem halben Jahr durch ein neues Gesetz in England und Wales ein. Vereinzelt wurden in der Konservativen Partei Stimmen laut, die von einem Orwell-Staat sprachen, der Gedankenverbrechen verfolge.
Vereinzelt wurden in der Konservativen Partei jetzt Stimmen laut, die von einem Orwell-Staat sprachen.
Innerhalb der Pufferzone rund um Abtreibungskliniken ist es verboten, Frauen anzusprechen, sie zu beeinflussen, zu belästigen oder „Kummer“ (distress) zu verursachen. Unter diese vagen Tatbestände fallen auch öffentliche Gebete. Nach Ansicht von Kritikern wird damit die Rede- und Religionsfreiheit in beispielloser Weise eingeschränkt. Der konservative Abgeordnete Andrew Lewer versuchte vergangene Woche einen Gesetzesvorstoß, daß zumindest stille Gebete erlaubt sein sollen, doch wurde das im Parlament mit 299 zu 116 Stimmen abgelehnt. Auch eine erhebliche Anzahl Tory-Abgeordnete stimmte dagegen.
Rachel Clarke, die Chefin des Abtreibungskonzerns British Pregnancy Advisory Service mit über 70 Kliniken, der jedes Jahr Zigtausende Schwangerschaften abbricht, zeigte sich „entzückt“ über das Ergebnis. Proteste oder Gebete außerhalb von Abtreibungskliniken nannte sie eine „inakzeptable Belästigung“. Jede vierte Schwangerschaft in Großbritannien endet mit Abtreibung, das Land hat eine der höchsten Abbruchraten der westlichen Welt.
„Beten ist kein Verbrechen“, stand auf Plakaten, die Unterstützer von Vaughan-Spruce vor dem Gericht im Februar hochhielten. Vaughan-Spruce, die den March for Life UK leitet, erlebte nach ihrer ersten Verhaftung im Dezember immerhin eine kleine Genugtuung. Die Staatsanwaltschaft ließ während des Verfahrens die Vorwürfe fallen. Unterstützt wurde sie im ersten Prozeß von der christlichen Menschenrechtsorganisation ADF International. Der schwarze ADF-Rechtsanwalt Jeremiah Igunnubole warnte, „Zensurzonen“ seien ein Schritt in Richtung einer illiberalen Gesellschaft.