© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 12/23 / 17. März 2023

Die Wiedergeburt der Kernkraft
Energiepolitik: Im Herzen Europas zeichnet sich ein Machtkampf um die beste Form der Stromerzeugung ab. Atomstrom aus Frankreich oder Deutschlands Erneuerbare Energien?
Marc Schmidt

Nach dem Angriff Rußlands auf die Ukraine klingt Emmanuel Macrons Versprechen verlockend für europäische Länder: saubere und stets verfügbare Energie sowie obendrein eine verringerte Abhängigkeit von Wladimir Putins Riesenreich. Der französische Präsident bietet die Technologie der einzigen EU-Atommacht an und schmiedet eine Allianz mit Ländern, die zuvor noch stark von russischem Gas, Öl und Steinkohle abhängig waren. Doch auch südkoreanische und US-Unternehmen stehen bereit, die Renaissance der Kernkraft in Europa anzutreiben.

Anders Deutschland: Die Ampel hält am 2011 von Schwarz-Gelb beschlossenen Atomausstieg fest. Die drei verbliebenen KKW – Emsland, Isar 2 und Neckarwestheim 2 – sollen am 15. April endgültig vom Netz gehen. Auch Brokdorf, Grohnde und Gundremmingen C, die am 31. Dezember 2021 abgeschaltet wurden, werden zurückgebaut. Damit gehen mitten in der schlimmsten Energiekrise seit dem Zweiten Weltkrieg 8.107 Megawatt (MW) vom europäischem Stromnetz. 2021 wurden damit noch 12,6 Prozent der deutschen Strommenge „CO2-frei“ erzeugt. Doch mit ihrer „Atomphobie“ steht die Bundesrepublik mit Dänemark, Irland, Italien, Luxemburg, Spanien und Österreich gegen einen wachsenden Block von Atomkraft-Befürwortern. Denn nicht nur Erdgas, auch Kernkraft gilt seit Juli 2022 offiziell als „grün und nachhaltig“. EU-Förderungen für Investitionen winken. 2021 stammten 27,3 Prozent der Nettostromerzeugung in der Union aus Kernkraft. Wind, Sonne und Biomasse kamen zusammen auf nur 23 Prozent. Das Problem für die Erneuerbaren ist: Es muß immer ein konventionelles „Backup“ vorhanden sein – es gibt keine Speicher für tagelange Dunkelflauten.

Die Lösung lag in der Bundesrepublik so nah und ist nun ferner denn je. Deutschland war führend in der europäischen Kerntechnik. Der erste Kleinreaktor ging 1962 im unterfränkischen Kahl in Betrieb. Gundremmingen A, das 1967 bei Ulm startete, konnte 237 MW aus einem Siedewasserreaktor von AEG und General Electric liefern. Das erste Gigawatt-KKW lieferte 1975 im südhessischen Biblis 1.167 MW ans Netz. Doch die ständig überholte und modernisierte Anlage fiel im August 2011 Merkels erster Abschaltwelle zum Opfer. Insgesamt wurden in Deutschland – vor allem in den siebziger und frühen achtziger Jahren 46 große und kleine Kernreaktoren errichtet. Mit dem Atomausstieg werden nicht nur zweistellige Milliardeninvestitionen vernichtet, sondern auch Erfahrung, Fachwissen und eine Technologieführerschaft.

Europaweit sind neue Reaktoren geplant oder schon im Bau

Das 1956 gegründete Forschungszentrum Jülich bei Aachen brachte die friedliche Nutzung der Atomenergie voran. Die Kraftwerk Union (KWU), ein Gemeinschaftsunternehmen von Siemens und AEG, exportierte ihre Technik nach Argentinien, Brasilien, in den Iran und die Schweiz. Mit der französischen Framatome entwickelte Siemens in den neunziger Jahren den „Europäischen Druckwasserreaktor“ (EPR). Der erste EPR mit 1.660 MW Leistung ging 2018 in Taishan im Süden Chinas ans Netz. Eines der 34 Länder weltweit, in denen KKW in Betrieb sind. Der erste europäische EPR soll nach Startschwierigkeiten im April im finnischen KKW Olkiluoto ans Netz gehen.

Derzeit gibt es auf dem Planeten 423 Reaktoren mit einer Kapazität von 378,8 GW. 58 weitere befinden sich mit 65 GW im Bau. Planungen über hunderte weitere existieren. In Frankreich, wo zuletzt 2002 zwei neue Reaktoren ans Netz gingen, wird die Errichtung von mehr als 14 neuen Atomreaktoren geprüft – fast doppelt so viele wie bisher angekündigt. „Zunächst geht es um sechs Reaktoren, acht weitere werden in Betracht gezogen“, erklärte Agnès Pannier-Runacher, Macrons „Ministerin für den Energiewandel“, in der Wirtschaftszeitung Les Echos. Und sie habe der Industrie die Frage gestellt: „Können Sie bis 2050 mehr als 14 Reaktoren bauen?“ Die frühere Wirtschaftsministerin begründete dies mit den unzuverlässigen deutschen Nachbarn und dem Klimaschutz. Frankreich müsse schließlich „massiv mehr Strom produzieren“ – sprich: Der deutsche Totalausstieg aus Kohle und Atom gefährdet das europäische Stromverbundnetz. Eine aktuelle McKinsey-Studie (JF 11/23) rechnet schon 2025 mit einer Versorgungslücke. Viele Europäer verübeln Berlin den Fokus auf volatile Stromquellen wie Wind und Solar, die das Verbundnetz belasten und die Preise an den Strombörsen erhöhen. Auch der Austritt aus der internationalen Energiecharta schafft kein Vertrauen in die Stabilität des einst sicheren Produktionsstandorts.

In 13 EU-Staaten gibt es derzeit 102 aktive Reaktoren, allein Deutschland will sofort aussteigen; Spanien eventuell 2030 und Belgien 2035. Zehn Länder planen keinen Ausstieg – im Gegenteil. Polen, wo zu Ostblockzeiten der Bau von vier Anlagen scheiterte, will sieben Reaktoren errichten. In den Niederlanden, Rumänien, der Slowakei, der Tschechei und Ungarn sind zusätzliche Anlagen geplant. Allesamt haben die kalkulierten Laufzeiten ihres KKW-Bestands verlängert. Gleichzeitig treibt der Kampf um die Energie der Zukunft einen Keil durch Europa. Derweil blockiert die Bundesregierung die Teilnahme von Siemens Energy am ungarischen Reaktor Paks 2. Ungarns Außenminister Péter Szijjártó reiste daher kurzfristig ins französische Flamanville, wo er auf Schützenhilfe von Framatome hofft. „Dieses unfaire Verhalten von seiten Berlins ist absolut unanständig, da jedes Land eigenständig und souverän über die Energieversorgung entscheiden darf“, kritisierte Szijjártó in der Budapester Zeitung.

Unter den Europäern, die nicht in der EU sind, will nur die Schweiz aussteigen. Die bestehenden vier Meiler dürfen aber so lange betrieben werden, wie sie sicher sind. Auch Großbritannien und Rußland haben die Zeichen der CO2-freien Zeit erkannt. Auf den Inseln soll der KKW-Park um acht erweitert werden. Unter Moskaus Führung stehen 37 aktive Reaktoren, 38 sollen dazukommen. Die hohe Planungszahl erklärt sich durch einen Prototyp, dem die Zukunft gehören könnte: Zwei Blöcke trägt das schwimmende KKW Akademik Lomonossow, das die sibirische Stadt Pewek an der Nordostpassage mit Energie versorgt. Das Kleinkraftwerk liefert seit 2019 eine elektrische Nettoleistung von 32 MW sowie zusätzlich 73 MW Prozeßwärme. Rußland setzt den Reaktortyp auch auf Atomeisbrechern ein. Er ist modular aufgebaut (Typ SMR) und kann so schneller fertiggestellt und genehmigt werden. Oft ist eine Verlegung möglich.

Weltweit setzen Argentinien, China, Frankreich, Großbritannien, Kanada und die USA auf SMRs – allerdings mit Weiterentwicklungen: Flüssigsalz-Reaktoren mit Thorium-Brennstoff. 2021 wurde in China der erste 100-MW-Prototyp angekündigt, der ab 2030 etwa 100.000 Haushalte elektrifizieren soll. Er benötige nur wenig Wasser und kein Uran. Das eingesetzte Thorium fällt beim Abbau Seltener Erden an. Angesichts der Verzahnung von ziviler und militärischer Forschung sowie Industriespionage und der 80jährigen Nuklearerfahrung könnte ein US-Prototyp noch vor 2030 lauffähig sein.

Eine Testanlage versprechen auch die Erfinder des Dual-Fluid-Reaktors (DFR). Dieser nutzt statt Uran-Brennstäben zwei zirkulierende Flüssigkeiten: Eine trägt den Actinoiden-Brennstoff (Thorium, Uran), die andere führt die Wärme ab. Herkömmliche Reaktoren verbrennen nur einen kleinen Teil des Urans, der Rest muß entsorgt werden. Die neue Generation soll 90 Prozent weniger Atommüll übriglassen. Und der DFR reguliere sich selbst: „Wenn sich die Brennstoff-Flüssigkeit erhitzt, dehnt sie sich aus. In der Folge nimmt die atomare Reaktivität ab und die Temperatur sinkt wieder – ganz von selbst. Der Reaktor kann sich deshalb niemals überhitzen“, versprechen die Entwickler. „Für zusätzlichen Schutz sorgen integrierte Schmelzstopfen in den Leitungen: Wenn die vorgesehene Temperatur doch überschritten wird, lösen sie sich auf. Dann läuft der Brennstoff in sichere Behälter ab und die Kettenreaktion stoppt sofort.“

Die USA, China und Südkorea drängen auf den Energiemarkt

2026 soll eine Testanlage stehen, für 2028 ist die Lizenzierung anvisiert und ein Jahr später der Prototyp. 2034 könne die Serienproduktion beginnen – allerdings nicht in Deutschland. Die Berliner Physiker um den DFR-Haupterfinder Armin Huke haben ihren Firmensitz im kanadischen Vancouver. All das ist noch Zukunftsmusik. Die derzeit im Bau befindlichen Großreaktoren gehören noch zur 3. KKW-Generation, etwa die EPR-Anlagen in Finnland und Frankreich. Die gleiche französische (und ursprünglich auch deutsche) Technik kommt in den beiden neuen Kraftwerksblöcken im englischen Hinkley Point und in Sizewell zum Einsatz. In Bradwell sind zwei chinesische Hualong-One-Reaktoren geplant. Polen setzt hingegen auf amerikanische und südkoreanische Technik für zwei Projekte, die vor dem Baubeginn stehen. Die Koreaner hatten einen Trumpf: Sie erklärten sich zur Übernahme von 50 Prozent der milliardenschweren Projektkosten bereit. Denn ein erfolgreiches Projekt bedeutet für die Asiaten, daß sie alle supranationalen Zulassungen und Genehmigungen der EU für alle deren Mitgliedsstaaten erhalten.

Daß neue KKW gebaut werden, hat desweiteren mit dem Alter der Bestandsanlagen zu tun. Frankreich mußte 2022 30 Meiler herunterfahren, da am Rohrleitungssystem Sicherheitsarbeiten notwendig waren. Gerade bei den älteren Siedewasseranlagen mit nur einem Wasserkreislauf besteht viel Modernisierungsbedarf. Deutschlands abgeschaltete KKWs waren da technisch ausgereifter. Ein wichtiges Problem für Frankreich ist die Netzsteuerung. Kernenergie liefert dort etwa 70 Prozent des Stroms. Dieser Anteil liegt über dem Grundlastbereich von 50 Prozent, der Menge, die dauerhaft, egal ob nachts oder am Feiertag abgefragt wird. Doch KKW sind für den gleichmäßigen Verbrauch in Industrie, Häfen oder Rechenzentren konzipiert, hier können sie ihre große Stärke ausspielen. So muß Frankreich die Stromproduktionsmenge kurzfristig, um die Netzfrequenz konstant zu halten, an die jeweiligen Bedarfe anpassen. Das verursacht große wirtschaftliche Kosten. Die Anlagen so zu fahren, reduziert deren Wirkungsgrad und treibt die Strompreise in die Höhe. Andererseits gleicht das Land so die schwankende Menge deutschen Wind- und Solarstroms teilweise aus.

Zukünftig sollen mehr Kernkraftwerke im Vollastbereich gefahren werden. Den nicht zur Bedarfsdeckung benötigten Strom will Macron in die Produktion von Wasserstoff und Ammoniak fließen lassen. So könnte das Land einen Teil der überschüssigen Energie speichern. Frankreichs Präsident baut somit eine direkte Konkurrenz zu den deutschen Plänen auf, nicht verwendbaren Strom aus Windrädern zur Wasserstoff-Produktion zu verwenden. Wobei die Franzosen über eine bessere Netzanbindung und geringere Produktionskosten sowie eine konstantere Strommenge verfügen werden. Ein Standortvorteil im Kampf um eine sichere und CO2-arme Energieversorgung.

Aktuelle Online-Petition „Ja zur Kernenergie – Laufzeiten sofort verlängern!“: petitionfuerdemokratie.de/ja-zur-kernenergie