Herr Professor Höbelt, ist die Revolution von 1848 tatsächlich gescheitert?
Lothar Höbelt: Das hängt davon ab, was Sie als Kriterium heranziehen. Die Regierungen der Ancien régimes waren meist schon binnen weniger Tage gestürzt, insofern war sie erfolgreich. Doch damit entstand ein gewisses Machtvakuum, das alle bestrebt waren, nach ihren Vorstellungen zu füllen. Und da waren sich die „Revolutionäre“ – die sich ja meist keineswegs als solche sahen, sondern als Leute, die eine vernünftige Neuordnung anstreben, weil die alte Regierung ihrer Meinung nach Quatsch gemacht hat – untereinander keineswegs einig. So gab es unter ihnen Liberale und Demokraten, Frühsozialisten und Kapitalisten, Deutsche und Tschechen etc. Notgedrungen endete für die meisten die Sache mit einer Enttäuschung. Sehr schematisch gesprochen: Diese Auffächerung des Spektrums erlaubt den Dynastien und ihren Armeen ein „Comeback“: Insofern „scheiterte“ die Revolution schließlich militärisch. Die in Deutschland übrigens vor einem besonderen Problem stand: Wer Paris hat, hat Frankreich. Wer aber Frankfurt hatte, damals „Hauptstadt“ des Deutschen Bundes, hatte gar nichts. Und selbst wer Wien hatte, wurde von Prag, Innsbruck, Verona oder Zagreb nur mit Verachtung gestraft.
Aber trotz des militärischen Scheiterns hat sich das politische Wollen der Revolution doch langfristig durchgesetzt.
Höbelt: Nun ja, dieses von Ihnen unterstellte einheitliche „Wollen“, im Sinne der Rousseauschen Volonté géneral, ist eine Fiktion, das gab es nicht. Revolutionen, hat Lenin einmal gesagt, kommen dann, wenn nicht nur „die da unten“ nicht mehr wollen wie bisher, sondern wenn „die da oben“ nicht mehr können wie bisher. Revolutionen sind Betriebsunfälle der Geschichte. Im März 1848 ist das Entscheidende die Schwäche der Regimes, die so schnell klein beigeben. Die Erben dieser Regimes aber lernten ihre Lektion. Man kehrte deshalb nicht, außer vielleicht in Neapel, zum Status quo ante zurück. Stattdessen gab es fast überall Reformen. Ehemalige „Achtundvierziger“ konnten den Marsch durch die Institutionen antreten. Für Österreich könnte man sogar von einer Modernisierungsdiktatur sprechen! Verfassungen gab es übrigens in den meisten Ländern schon vorher, doch nun wurden sie ausgebaut: Zu einem Verfassungskonflikt wie 1862 in Preußen wären die Liberalen vor 1848 nicht in der Lage gewesen. Das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn entwickelten sich ab den sechziger Jahren zu konstitutionellen Monarchien, wo die Gewaltenteilung funktionierte – übrigens auch auf Ebene des Wahlrechts, nämlich mit zwar eingeschränktem Wahlrecht für die Landtage, aber allgemeinem Wahlrecht für das Zentralparlament. Im von Bismarck geschaffenen Norddeutschen Bund gab es das schon ab 1867; mit föderalistischen Strukturen, statt mit „französischem“ Zentralismus.
All das belegt doch, daß sich die Kernanliegen der Revolution – nämlich ein vereintes Deutschland mit konstitutioneller Staatlichkeit – am Ende durchsetzten.
Höbelt: Nochmal, Sie unterstellen den Revolutionären ein einheitliches Programm, das aber gab es nicht. So fühlte sich etwa das eigentliche Bürgertum in der Spätphase der Revolution zwischen radikalen, „150prozentigen“ Revolutionären und den Truppen der „Reaktion“ recht ungemütlich. Gewisse obrigkeitsstaatliche Relikte blieben auch erhalten: Der Staat mischte sich in so manches ein, was ihn aus liberaler Sicht nichts angeht. Allerdings immer noch recht zahm im Vergleich zur unüberschaubaren Regulierungswut unserer angeblich „neoliberalen“ Gegenwart.
Sie meinen, die Monarchien damals waren im Grunde nicht viel dirigistischer als der Staat heute?
Höbelt: Ich meine in der Tat, wer im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen werfen. Als Milderungsgrund für die Gegenwart könnte allenfalls gelten: Die Bürokratien des 19. Jahrhunderts waren noch nicht mit der Versuchung der EDV konfrontiert.
Zum Leidwesen der Fürsten hatte das Bürgertum Anfang des 19. Jahrhunderts die Deutsche Frage aufgeworfen. Die Antwort darauf war die – von den Fürsten eigentlich ungewollte – Schaffung des Deutschen Reichs am 1. Januar 1871. War also nicht auch das im Grunde eine Frucht der Revolution?
Höbelt: Bismarck hat die deutsche Einigung zweifellos als etwas gesehen, das früher oder später kommen würde, kommen mußte: und wenn, dann besser mit als gegen Preußen – und nicht durch eine Revolution. Wobei eine Zeitlang auch im Raum stand, Deutschland zwischen Preußen und Österreich einfach entlang des „Weißwurstäquators“ aufzuteilen. Jedoch war 1848 nicht der eigentliche und einzige Anstoß für ein deutsches Reich, zweifellos aber ein Katalysator. Außerdem war 1848 insofern eine Weichenstellung, als sich zum ersten Mal deutlich zeigte, welche Schwierigkeiten mit einer Führungsrolle Österreichs in einem geeinten Deutschland verbunden gewesen wären. Denn die „Binnendeutschen“ …
… also die Deutschen außerhalb Österreichs …
Höbelt: … wollten keinesfalls ganz Österreich, das damals bis vor Belgrad und in die Ukraine reichte, in ihr neues Reich aufnehmen, die Österreicher aber wollten auf diese Gebiete nicht verzichten. Das Problem wurde im Herbst 1848 in der Frankfurter Paulskirche, wo die Nationalversammlung tagte, diskutiert, konnte aber nicht wirklich befriedigend gelöst werden und trug so wesentlich zum Scheitern des Verfassungsentwurfs bei. Da deutet sich schon das Konzept eines „engeren und weiteren Bundes“ an, wie es dann bis zu einem gewissen Grade 1879 im sogenannten Zweibund verwirklicht wurde, als das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn ein militärisches Bündnis schlossen. Aber noch viel brisanter ist die Frage der nationalen Einigung mit Blick auf Italien: Nicht nur in Deutschland, auch in Italien waren die Österreicher die Vormacht – dort allerdings rasend unbeliebt. Das war ihre Achillesferse, und dort begann, was Österreich angeht, ja auch die Revolution von 1848. Sogar der Papst stellte sich anfangs gegen Wien. Staatskanzler Metternich klagte, mit allem habe er gerechnet, nur nicht mit einem liberalen Papst! Man fragt sich, was er wohl heute sagen würde? Wie auch immer, Radetzky hat das Problem 1848/49 wider Erwarten militärisch gelöst – damit aber nicht politisch aus der Welt geschafft.
Ein Großdeutsches Reich, also inklusive Österreich, hätte ergo eine Freigabe der meisten nichtdeutschen Gebiete bedeutet?
Höbelt: Das ist eine der reizvollen „Was wäre wenn“-Fragen: Die Großdeutschen von 1848 hätten vielleicht Ungarn aufgegeben oder Galizien, aber Italien? Mailand? Venedig? Gar die wichtige Hafenstadt Triest? So hat dann Frankreich 1859 mit dem Feldzug von Solferino den Anstoß zur italienischen Einigung gegeben – sich damit aber auch einen Rivalen geschaffen. Den Österreichern hatten die Preußen damals Unterstützung gegen Frankreich angeboten, würde Wien ihnen dafür Norddeutschland überlassen. Das lehnte Kaiser Franz Joseph jedoch ab. Vielleicht hat es ihm später leidgetan.
Heute wird das formale Scheitern der 48er Revolution oft als der Moment dargestellt, in dem die deutsche Geschichte historisch „falsch abgebogen“ und seitdem über den „Dämon“ (Johannes Willms) Bismarck zielgerichtet auf Hitler zugelaufen sei – und erst Amerikaner und Briten hätten uns ab 1945 wieder auf die „richtige Spur“ gesetzt. Was ist da dran?
Höbelt: Es ist eine kuriose Marotte der Deutschen, bei kaum einem Thema ohne pflichtschuldige Verbeugung vor Hitler auszukommen. Goebbels muß da im Jenseits sehr zufrieden lächeln. Wenn es denn schon sein muß, ließe sich am ehesten formulieren: Unter Bismarck hätte Hitler keine Chance gehabt, unter Friedrich dem Großen schon gar nicht. In gewisser Weise war es sogar gerade Hitler, der eine „erfolgreiche“ Revolution mit sehr weitreichenden Absichten von „Social engineering“ in Gang gesetzt hat. Der Historiker Ludwig Dehio hat die Nazis deshalb auch die deutschen Jakobiner genannt. Seinen Aufstieg verdankt Hitler dem Sturz der alten Ordnung nach der Niederlage im Weltkrieg – und vor allem der Weltwirtschaftskrise: Davor, bei der Reichstagswahl 1928, erzielte die NSDAP nur 2,6 Prozent der Stimmen, im Juli 1932 dann 37 Prozent. Die verpaßten Optionen von 1848 spielen dabei keine Rolle. Rein formell hielt sich Hitler übrigens viel skrupulöser an die Verfassung als viele der anderen Wald- und Wiesen-Diktatoren in Europa. Der Obrigkeitsstaat half ihm dann später vielleicht insofern, als deutsche Offiziere, etwa im Unterschied zu serbischen oder spanischen, nicht in einer Tradition standen, in der ein Putsch oder ein sogenanntes „Pronunciamiento“ als Kavaliersdelikt galt, wenn nicht sogar als Karriereerfordernis. Die Amerikaner haben West-Deutschland dann zumindest eine Zeitlang zu dem gemacht, was sie lange Zeit selbst waren: ein großes Land ohne nennenswerte Armee – was natürlich ein großer Standortvorteil ist. Die USA konnten sich das im 19. Jahrhundert leisten, weil sie keine nennenswerten Gegner hatten und Deutschland, weil es einen so nennenswerten hatte, daß die USA für die Abschreckung aufkommen mußten. Nicht zu vergessen: Die Amerikaner haben mit Konrad Adenauer auch ein Regierungsmodell gestützt, das nach rechts hin bewußt offen war: All die kleinen Rechtsparteien, die es in den Bundestag geschafft hatten, zum Teil mit Hilfe der CDU, wurden da an die Brust genommen. Die vielzitierte Re-Education war ein Projekt, bei dem sich deutsche und amerikanische Linksintellektuelle gegenseitig die Bälle zuspielten. Aber wichtiger war die Nato: Da haben Deutsche und Briten ihrerseits die Amerikaner in Realpolitik unterrichtet.
Hätte sich Deutschland, wäre 1848 gelungen, zu einem demokratischen Musterstaat nach heutigem Verständnis entwickelt, wie gern insinuiert wird, oder wäre es auch dann das geworden, was es bis 1933 war, eine ganz normale Großmacht?
Höbelt: Bei „Was wäre wenn?“-Fragen schwingt gerne mit, Zensuren über die Vergangenheit zu verteilen, weil es ja auf mögliche Alternativen ankommt. Aber genau diese Frage läßt sich seriöserweise nicht schlüssig beantworten, weshalb wir mit Zensuren vorsichtig sein sollten. Demokratie im Sinne eines allgemeinen Wahlrechts erwies sich 1848 genaugenommen fast überall in Europa als Sackgasse: In Frankreich endete dieses Experiment mit dem plebiszitären Kaisertum Napoleons III. Und in Deutschland drang die Nationalversammlung, die auf einem sehr breiten Wahlrecht beruhte, mit ihrem Verfassungsentwurf nicht durch. Das bewunderte Erfolgsmodell des Parlamentarismus, England, hatte hingegen ein eingeschränktes Wahlrecht, nach dem maximal ein Drittel der erwachsenen Männer wahlberechtigt waren. Und ähnlich war es dann auch in Österreich und Italien. In manchen südeuropäischen Ländern gab es zwar so etwas wie ein allgemeines Wahlrecht, doch wurden die Wahlen von den Präfekten im Sinne der Regierung „gemanagt“. Der französische Frühsozialist Pierre-Joseph Proudhon wird gern mit dem Spruch zitiert: „Das allgemeine Wahlrecht – das ist die Konterrevolution!“ Bismarck hat ein bißchen damit geliebäugelt, als er sich 1866/67 auf diese Variante einließ, zwar nicht für den preußischen Landtag, aber für den Reichstag. Die Dynamik des Mächtesystems würde ich nicht allzu sehr mit der inneren Verfaßtheit der Staaten vermengen. Als internationaler Störenfried erschien damals Napoleon III., also einer der „Erben“ des Jahres 1848 – aber auch da gilt: Kein Vergleich mit seinem Onkel! Preußen hat im 19. Jahrhundert viel weniger Kriege geführt oder in fremden Ländern interveniert als die meisten europäischen Großmächte. Vor allem aber: Bei allem zeitgeistigen Lamento heute über den Nationalismus ist doch sehr auffällig, daß kein Jahrhundert in Europa so weitgehend friedlich verlaufen ist, wie das zwischen 1815 und 1914. Bis 1878 gab es nur recht kurze, überschaubare Kriege, vielleicht mit Ausnahme des damals allerdings weit entfernten Krimkriegs, und ab 1878 bis 1911 gar keinen Krieg (bis auf ein serbisch-bulgarisches Gefecht, das George Bernard Shaw zu seinem Stück „Arms and the Man“ inspiriert hat). So etwas hatte Europa zuvor noch nie und seither erst wieder im Kalten Krieg unter dem US-Atomschirm erlebt.
Kriterium einer Revolution ist auch der Umsturz der Sozialordnung. Mit dem Auseinandertreiben des 1849 von Frankfurt nach Stuttgart geflohenen „Rumpfparlaments“ schienen Adel und Klerus gesiegt zu haben, das Bürgertum schien ausgeschaltet. Hat sich aber nicht auch hier in den folgenden Jahrzehnten eine stille soziale Revolution vollzogen?
Höbelt: Sie irren, ein „Umsturz der Sozialordnung“ ist keineswegs Kennzeichen erfolgreicher Revolutionen. Vielmehr ist sie Ergebnis einer Eskalation, die keineswegs in Verfassungsstaaten, sondern in Bürgerkrieg und Terror endet, wie bei den französischen Jakobinern 1793 oder den russischen Bolschewiki ab 1917. Tatsächlich sind erfolgreiche Revolutionen in der Regel nämlich konservative Revolutionen: solche, bei denen sich die Gesellschaft, bis hin zu einem Großteil der Eliten, gegen Versuche einer Regierung wehrt, das „gute alte Recht“ zu mißachten und die Gesellschaft umzukrempeln. Der protestantische Landadel Englands, die Gentry, vertrieb in der Glorreichen Revolution 1688 seinen katholischen König, der noch dazu mit Links-Außen flirtete. Die Amerikaner wehrten sich 1776 gegen Steuern und Verordnungen aus einem London, das noch dazu mit den Indianern paktierte. Das Vorbild der USA wurde übrigens schon 1848 bei den Verfassungsberatungen immer wieder herangezogen. Die Französische Revolution galt dagegen als abschreckendes Beispiel. 1848 war in diesem Sinne eine politische Revolution, die gegen mißliebige Strukturen und Personen aufbegehrte; aber es war keine tiefgreifende soziale Umwälzung beabsichtigt. Die Kirche geriet erst viel später so richtig ins Schußfeld der Liberalen. Gerade die rheinischen Katholiken waren vielfach recht kritisch gegenüber Preußen, dem sie 1815 zugeschlagen wurden – und insofern auf seiten der „Revolution“. Es gab Ressentiments gegen adelige Protektionskinder, die bürgerlichen Aufsteigern im Weg waren. Aber Kennzeichen des Adels ist ja gerade, daß er ständig durch Neuzugänge ergänzt wird. Das stößt dem alten Adel zwar mitunter sauer auf, aber der Monarch sicherte sich so seine Gefolgschaft. Im Vergleich zu früheren Jahrhunderten wurden auch nur relativ wenig „Rebellengüter“ konfisziert. Armeen plünderten, aber das Eigentum wurde von der Politik prinzipiell respektiert – in dieser Hinsicht waren es nahezu idyllische Verhältnisse.
Prof. Dr. Lothar Höbelt, war bis 2021 Professor für Neuere Geschichte an der Universität Wien und ist Vizepräsident der Internationalen Kommission zur Geschichte des Ständewesens und der Parlamente mit Sitz in Neapel. Er lehrte als Gastdozent an mehreren US-Universitäten, publizierte zahlreiche Bücher, war Beiratsmitglied wissenschaftlicher Fachzeitschriften sowie Referent an der traditionsreichen Theresianischen Militärakademie. Geboren wurde der Neuhistoriker 1956 in Wien.