Präsident Benjamin „Bibi“ Netanjahu spricht von einem „Abgrund“, in den das Land fallen könnte, andere warnen vor einem „Bürgerkrieg“, weitere vor der Zerstörung des „dritten Tempels“: Durch Israels Gesellschaft zieht sich ein tiefer Riß. An der Oberfläche kämpfen zwei Lager um die von der rechts-religiösen Regierung mit Höchstgeschwindigkeit vorangetriebene Reform des Justizwesens.
Anders als oft dargestellt hängt diese nicht allein an der Person Netanjahu und an wildgewordenen Politikern, die die zweite Gewalt aus reinem Machthunger und ohne legitimen Grund schwächen wollten. Vielmehr ist sie eine Reaktion auf eine massive Machtausweitung der Justiz in den vergangenen drei Jahrzehnten, die wenig demokratisch legitimiert war.
Die Regierung muß sich aber fragen lassen, ob sie das richtige Maß für ihr Vorhaben gefunden hat – und ob diese Reform es wert ist, daß es das Volk darüber zerreißt. Trotz erneuter Massenproteste billigte das Parlament am Montagabend nach stundenlangen Debatten in erster Lesung die Gesetzesänderungen. Punktsieg Netanjahu. Doch am Ende ist der Justizstreit nur Symptom eines viel tieferen Kulturkampfes, in dem es um das Verhältnis zwischen orientalischen und europäischen, orthodoxen und liberalen, religiösen und säkularen Juden geht.
75 Jahre nach der Gründung steht Israel vor einer der größten Herausforderungen seiner Geschichte: sich neu über eine gemeinsame Identität zu verständigen.