Die Forschung zum nichtnazistischen Schrifttum im Dritten Reich leidet seit Jahrzehnten unter der kulturpolitischen Abwertung der Existenz- und Schreibform „Innere Emigration“. Unsere Universitäts- und Feuilleton-„Eliten“ favorisieren fast durchweg die zwischen 1933 und 1945 emigrierten Autoren zu Lasten der Daheimgebliebenen, die ihnen meist als angepaßt oder halbherzige Zeitflüchtlinge minderer Qualität gelten. Dabei finden sich bei Inneren Emigranten Zeugnisse von Mut und literarischem Niveau viel häufiger als vielfach konzediert. Und hinsichtlich der Bereitschaft, sich als Nonkonformisten zu offenbaren, stehen damalige Schriftsteller den heutigen quantitativ gewiß nicht nach.
Die dabei gezeigten Haltungen differieren, vom heroisch-ästhetischen Nihilismus eines Gottfried Benn und einer bewußten (kaum durchzuhaltenden) Position stoischen Beobachtens bei Erich Nossack („Der Untergang“) und Ernst Jünger („Auf den Marmorklippen“) über ein illusionsloses Leben in Erwartung (Borchert) oder die Politik negierende Naturversenkung (Wilhelm Lehmann, Oskar Loerke) bis zur Musterung der Lage und Gesellschaft als absurde Groteske (Kurt Kusenberg). Die wohl größte Gruppe war christlich motiviert: Schriftsteller wie Stefan Andres, Werner Bergengruen, Gertrud von le Fort, Jochen Klepper, Rudolf Alexander Schröder, Erika Mitterer, Paula von Preradović, Siegbert Stehmann oder Reinhold Schneider.
Über gut 30 von ihnen hat Gerhard Ringshausen, emeritierter Professor für Evangelische Theologie und Religionspädagogik, ein 700seitiges Grundlagenwerk verfaßt mit dem Titel „Das widerständige Wort“, das beanspruchen darf, diesen literarischen Sektor neu zu vermessen. Von den christlichen Autoren heißt es: „Sie zogen sich nicht zurück in eine überlieferte Glaubenswelt, sondern nahmen mutig und konkret Stellung, wobei sie die Zensur geschickt unterliefen. Es ist Zeit, diese Literatur neu zu entdecken und zu würdigen.“ In der Tat, und mit Ringshausens gewichtigem und nur im Fazit von kleinen Zeitgeist-Gesten getrübten Werk wird es künftig schwerer, den vielfältigen mutigen literarischen Anstrengungen christlicher Kreise Respekt zu verweigern.
Was bietet der Band? Nach einer Einordnung des Schrifttums innerhalb der Begriffe „Christliche Literatur“, „Resistenz“ und „Innere Emigration“ wird letztere literarhistorisch erörtert: Selbstverständnis, Verhältnis zum Exil, Rückzug aus der Gesellschaft, Forschungsgeschichte, interpretatorische Einzelfragen wie Historischer Roman, Verstehensbedingungen, Literatur und Tendenz, Widerstandsgehalt, Rezeption und umstrittene Textdeutungen. Der Fokus liegt auf der Widerstandsproblematik, was zweifellos den religiösen Vorgaben dieser Schriftsteller entspricht, so sehr sie auch generell belletristisch zu bestehen versuchten. Dieser Akzent verbindet den Verfasser mit der etablierten Germanistik, die sich weithin darauf kapriziert, ob, wie und bei welchen Wirkungs- oder Charakterdefiziten Innere Emigranten ihre Oppositionsfunktion überhaupt erfüllen konnten. Ringshausen vermeidet typische Verengungen des Fachs zu einem penetranten Moralismus, der textlicher Autonomie kaum Kredit gewährt.
Im zweiten Teil erhalten wir einen guten Überblick über die christliche (meist ökumenische) Schreibszene in Deutschland und Österreich. Manche Ab- und Ausgrenzungen des Autorenstamms (Wiechert: ja, Ernst Jünger: nein) erscheinen diskutabel. Jünger, der sich noch mit 101 Jahren zum Katholizismus bekehrte, schöpfte im Krieg Kraft aus einer intensiven Bibel-Lektüre, die in den „Strahlungen“ ihren Niederschlag findet. Bereits seine „Marmorklippen“ (1939) zeigen, besonders in der Figur des Pater Lampros, deutliche Sympathien für christliches Verhalten. Zu Recht deutete der Kulturwissenschaftler Uwe Wolff Jüngers damalige Tagebücher als „Protokoll einer Annäherung an den christlichen Glauben“.
Verstrickt in staatsfromm- protestantischen Loyalitäten
Ein Verdienst der Studie liegt in der durch zahlreiche Textbelege und abwägend-sachkundige Werkanalysen veranschaulichten Einfühlung in christliches Handeln und Argumentieren. Nicht verschwiegen wird allzumenschliches Verhalten in Tageskonflikten. Autoren zeigten spezifische Schwächen, verkannten zuweilen die Lage, sicherten sich taktisch ab (wie Rudolf Alexander Schröder mit vielfältigen Netzwerken), verstrickten sich in innerkirchlichen Streit, exemplarisch in Sachen „Bekennende Kirche“. Besonders Klepper steckte permanent in staatsfromm-protestantischen Loyalitätskonflikten.
Indem Ringshausen zuweilen über frühere Gesinnungsgemeinschaften christlicher Autoren mit Nationalisten und anfängliche Teilsympathien mit auch von Nationalsozialisten geteilten Zielen spricht, wäre vom Leser vertiefend zu bedenken, daß zum Beispiel für Kriegsteilnehmer (Schröder, Stehmann, Niemöller) die Kriegschuldthese in Versailles ein steter Stachel bleiben mußte. Desgleichen in welcher Zwickmühle gerade Christen durch den anderen (kommunistischen) Totalitarismus gerieten, der sie aktuell physisch sogar stärker bedrohte. Ansonsten werden die jeweiligen Empfindungsweisen und religiösen Denkfiguren am Beispiel zentraler Problemstellungen plastisch illustriert: Aktiver oder leidender Widerstand? Das Verhältnis zu Macht und Propaganda alias Lüge, zur Gerechtigkeit, frühen NSDAP, Masse, zum Sozialdarwinismus und Rassismus wie Krieg und zur Schuldfrage. Ausgehend von diesem kenntnisreich gewonnenen Deutungsbestand läßt sich nun vorurteilsloser forschen.
Es mag heute befremden, wie schwer sich manche Christen mit der Bejahung von Befreiungskrieg, Aufstand oder Attentat taten, daß sich einige eher in der leidenden Nachfolge Christi sahen. Autoren wie Andres oder Schneider bieten beispielhaft Gelegenheit zur Illustration dessen, was man als christliches Paradox oder nichtmilitante Utopie nennen darf. Schließlich stellte sich für Christen die Widerstandsproblematik eben anders, war schwieriger als für religiös Ungebundene. Gleichwohl war das, was sie aktivistisch hemmte, das Gebot „Du sollst nicht töten“, spätestens im Krieg geistiger Sprengstoff. Als radikaler Gegensatz zu dem, was täglich gefordert und verklärt wurde.
Prof. Dr. Günter Scholdt ist Historiker und Germanist. 2022 veröffentlichte er das Werk „Schlaglichter auf die ‘Innere Emigration’. Nichtnationalsozialistische Belletristik in Deutschland 1933–1945“.
Gerhard Ringshausen: Das widerständige Wort. Christliche Autoren gegen das „Dritte Reich“. Be.bra Wissenschaft, Berlin 2022, gebunden, 700 Seiten, 56 Euro