Nachdem Carl Schmitts physische Existenz am Ostermontag, dem 7. April 1985 erloschen war, wagte der Politologe Kurt Sontheimer in seinem in der Zeit veröffentlichten Nachruf („Der Macht näher als dem Recht“, vom 19. April 1985) eine kühne Prognose: Auch die geistige Präsenz des mit 97 Jahren verstorbenen Juristen werde nicht mehr lange währen. Zumindest in der Bundesrepublik nicht! Denn dort, tönte der sozialdemokratische Status-quo-Apologet mit neudeutschem „Es ist erreicht“-Behagen, benötige die Schriften dieses notorischen Antidemokraten und erklärten Feindes des liberal-kapitalistischen Systems niemand mehr.
Damit bewies Sontheimer ein ähnlich brillantes politisches Urteilsvermögen wie die ihm weltanschaulich so kongeniale journalistische Gurkentruppe um die Zeit-Herausgeberin Marion Gräfin Dönhoff und ihren Ziehsohn Theo („Ted“) Sommer, die noch bis dicht vorm Mauerfall ihrer Leserschaft eintrichterte, daß die ökonomisch florierende DDR stabil, die Wiedervereinigung unerreichbar und die planetarische Dominanz der USA und der UdSSR für unabsehbare Zeiten unerschütterlich sei.
Kommentierungen Schmitts zur Legitimation des NS-Systems
Fast dreißig Jahre, eine Globalisierung, eine Wiedervereinigung und etliche „Weltordnungskriege“ (Robert Kurz) später, können allenfalls wissenschaftshistorische Spezialisten mit dem Namen Kurt Sontheimer und denen vieler anderer im Lippendienst geübter politologischer West-Wanderer seines Schlages etwas anfangen. Carl Schmitt hingegen ist als Klassiker politischen Denkens fest etabliert und hat den Zenit seiner internationalen Wirkung heute wohl immer noch nicht erreicht. Darum schien der Carl-Schmitt-Gesellschaft jetzt risikolos möglich, was in der Bonner Republik vielleicht einen dicken Skandal à la „Historikerstreit“ ausgelöst hätte: die unkommentierte Veröffentlichung der „gesammelten Schriften“ aus den Jahren 1933 bis 1936, Schmitts Zeit als vermeintlicher „Kronjurist“ des Dritten Reiches (Waldemar Gurian) und „Cheflegitimator des Führerstaates“ (Joachim Schickel). Darunter finden sich jene Texte, die Schmitt-Hasser nie ohne das Adjektiv „berüchtigt“ zitieren und die wesentlichen Anteil daran hatten, ihren Urheber nach 1945 zum Unberührbaren zu stempeln.
Es handelt sich um „Der Führer schützt das Recht“, Schmitts Kommentar zur Reichstagsrede, mit der Adolf Hitler im Juli 1934 die Liquidierung innenpolitischer Gegner während des sogenannten „Röhm-Putsches“ rechtfertigte, sowie den Eröffnungsvortrag und das Schlußwort zu der von Schmitt im Oktober 1936 organisierten Tagung „Das Judentum in der Rechtswissenschaft“. Ähnliches Empörungspotential haben die hier wieder abgedruckte, aber bei rituellen Treibjagden auf Schmitt selten berücksichtigte Einlassung zur Verabschiedung der Nürnberger Rassengesetze („Die Verfassung der Freiheit“, 1935), die Stellungnahme zum Entwurf einer Neuregelung der Strafverfahrensordnung (1936), die unter anderem vorschlägt, Urteile sollten künftig nicht mehr „Im Namen des Volkes“ ergehen, sondern „Im Namen des Führers“.
Elf der 59 in der Zeit bis 1936 publizierten Texte dieses „Dokumentationsbandes“ hat Günter Maschke bereits in seine monumentalen Editionen „Staat, Großraum, Nomos. Arbeiten aus den Jahren 1916–1969“ (1995) und „Frieden oder Pazifismus? Arbeiten zum Völkerrecht und zur internationalen Politik 1924–1978“ aufgenommen. Und die hier integrierten Broschüren „Staat, Bewegung, Volk“ (1933), „Das Reichstatthaltergesetz“ (1933) und „Nationalsozialismus und Völkerrecht“ (1934) sind ebenfalls in jeder Universitätsbibliothek verfügbar. Zweck dieses Bandes kann daher nur sein, den erleichterten Zugriff auf solche eher für die Aufbewahrung in den Giftschränken von Bibliotheken empfohlene Wortmeldungen wie „Der Führer schützt das Recht“ und andere, bis heute in tatsächlich schwer zugänglichen Zeitschriften veröffentlichte Artikel wie „Nationalsozialismus und Rechtsstaat“ und „Führertum als Grundbegriff des Nationalsozialistischen Rechts“, zu ermöglichen, mit denen Schmitt versuchte, „dem nationalsozialistischen Staat verfassungsrechtliche Korsettstangen einzuziehen“ (Thor von Waldstein).
Damit sind die „Positionen und Begriffe“ Schmitts kompakt versammelt, die seine Publizistik nicht nur in der Frühphase der NS-Diktatur strukturieren. Auf eine Formel gebracht, dreht sich bei ihm alles um die Herstellung innerer staatlicher Einheit als Voraussetzung äußerer Unabhängigkeit. Nicht mehr zu hinterfragender, insofern absoluter Staatszweck ist für Schmitt die „völkische Selbstbehauptung“. Dieser archimedische Punkt seiner politischen Philosophie ist in einem auf Selbstabschaffung abonnierten Gemeinwesen wie der Berliner Bundesrepublik schwer zu begreifen. Was das aktuelle Gewicht der von Schmitt gerade ab 1933 zumeist in polemischer Zuspitzung behandelten Probleme menschlichen Zusammenlebens nicht mindert. Auch wenn sich die im Entstehen begriffene deutsche Bürgerkriegsgesellschaft nie wieder zur Nation erheben wird. Man muß nur, und solche Assoziationen provozieren die Texte dieses Bandes in Hülle und Fülle, an den mitunter schon panisch klingenden Chor derer denken, die zwecks Stiftung des „gesellschaftlichen Zusammenhalts“ im bunten deutschen Vielvölkerstaat jährlich höhere Millionensubventionen aus dem Steueretat fordern.
Windstille Jahrzehnte, als der zwangsemeritierte Professor in seiner sauerländischen „Sicherheit des Schweigens“ lebte, vergegenwärtigt ein weiterer opulenter Beitrag zur Schmitt-Forschung, die Edition des Briefwechsels mit Ernst-Wolfgang Böckenförde (1930–2019). Er setzt 1953 ein, als der junge Rechtsreferendar auf die Promotion zusteuert, aus der sich eine steile Karriere entwickelte: Nach historischem Zweitstudium, Dr. phil. und Habilitation für Öffentliches Recht steigt Böckenförde schnell zum Ordinarius in Heidelberg, Bielefeld, Freiburg auf und wird 1984 Richter am Bundesverfassungsgericht, dem er bis 1996 angehört.
Die Beziehung zu Schmitt, seinem „Lehrer im Recht jenseits der Universität“, erweist sich über Jahrzehnte hinweg deshalb als stabil, weil Böckenförde, obwohl Linkskatholik und rechter Sozialdemokrat, einerseits den historisch-kulturellen, bildungsbürgerlich-abendländischen Grundkonsens mit Schmitt teilt, jene „Voraussetzungen“, von denen nicht nur der „freiheitliche, säkularisierte Staat“ lebt, ohne sie garantieren zu können, sondern auch jede tiefere menschliche Beziehung. Andererseits hält er sich streng an den in der Adenauer-Ära eingeschliffenen Komment des „kommunikativen Beschweigens“ (Hermann Lübbe). Böckenförde signalisiert daher gleich anfangs, daß er nicht dem „Schuldkult“ zuneigt: „Ihre Stellung zu den Juden ist mir, wenn ich das sagen darf, immer noch ein Rätsel; aber es kommt mir nicht zu, Ihnen deshalb irgendeine Frage zu stellen.“
Wer hofft, aus dieser Korrespondenz zweier schon kraft Amtes „öffentlicher“ Gelehrten Einblicke ins Zeitgeschehen, in die politische Geschichte der Bonner Republik zu gewinnen, wird enttäuscht. In knapp 500 Briefen reflektieren beide Briefpartner „Verfassungsfragen“ und andere politische Probleme des „labilen Gemeinwesens“ Bundesrepublik allenfalls am Rande. Tagesaktualitäten sparen sie weitgehend aus. Zumal Böckenförde, der mit Bewunderung und Neid auf Schmitts Rolle als „Anwalt des Reiches“ in der „Nähe eines Zentrums der Macht“ während der Agonie der Weimarer Republik zurückblickt, seine Zunft als „rein rechtliche Wissenschaft“ charakterisiert, die sich, offenkundig als Reaktion auf ihr orgiastisches Engagement vor und nach 1933, nun als biedermeierlich „unpolitisch“ verstehe. Nur in den 1970ern, vor dem Hintergrund der linksterroristischen Aktivitäten der Baader-Meinhof-Bande, reagiert vor allem Böckenförde stärker auf die Zeitereignisse, die er dann sogar, kurz vor dem „Deutschen Herbst“, als „Verfassungsrechtler aufregend interessant“ findet.
Der insoweit dürftige zeitgeschichtliche Ertrag der Korrespondenz ist zumindest seit Ende der 1960er auch auf das häufiger genutzte Telefon zurückzuführen. Für diesen fernmündlichen Austausch waren dann wohl die „extremistischen Äußerungen“ und „radikalen Bemerkungen“ Schmitts reserviert, von denen der, wie der Herausgeber Reinhard Mehring aufatmend feststellt, sich eben deshalb zur „Skandalisierung“ nicht eignende Briefwechsel frei ist. Allerdings scheint hier nicht alles auf dem Tisch zu liegen, da Mehring mit einer enigmatischen Wendung einräumt, daß „die Edition einzelner Briefe und Materialien aus diversen Gründen problematisch ist“. Worum handelt es sich da?
Der eigentliche Wert dieser mit unzureichenden Anmerkungen „unterkellerten“ Edition liegt im schmaleren zweiten Teil, der zugehörige Korrespondenzen und wichtige, nach Schmitts Tod veröffentlichte „Positionierungen“ Böckenfördes vereint, knappe, präzise Deutungen des Werkes, die ganze Regalmeter „Sekundärliteratur“ aufwiegen. Hier findet sich ein an abgelegener Stelle, den „Beiträgen zur Plettenberger Stadtgeschichte“ erschienener Vortrag von 1997, mit dem der „Schüler“ Rezeptionsgeschichte schrieb. Von den drei „Grundprägungen“ Schmitts, wie sie Helmuth Quaritsch konturiert, „Katholik, Etatist, Nationalist“, bevorzugt Böckenförde den Katholiken zu Lasten des Nationalisten. Und stellt damit die Weichen für eine zwar fast schon grundgesetzkonforme, aber doch an „Erinnerungsfälschung“ (Dirk Blasius) grenzende, extrem enthistorisierende „Theologisierung“ Carl Schmitts.
Carl Schmitt: Gesammelte Schriften 1933–1936 mit ergänzenden Beiträgen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Verlag Duncker & Humblot, Berlin 2021, gebunden, 572 Seiten, 98 Euro
Reinhard Mehring (Hrsg.): Welch gütiges Schicksal. Ernst-Wolfgang Böckenförde/Carl Schmitt: Briefwechsel 1953–1984, Nomos Verlag, Baden-Baden 2022, 870 Seiten, 169 Euro