© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 11/23 / 10. März 2023

Identitätsstiftende Leugnung eines Völkermords
Türkische Vergangenheitspolitik
(ob)

Schuld, definiert die bis 2015 am Osteuropa-Institut der FU Berlin tätig gewesene Soziologin Tessa Hoffmann, sei stets persönliche Schuld, keine Kollektivschuld. Nachgeborene Generationen in der Türkei trügen also weder Schuld für den Genozid an den Armeniern und anderen Christen mit insgesamt drei Millionen Opfern im Osmanischen Reich zwischen 1912 und 1922. Aber sie seien mit der „historischen Verantwortungsübernahme“ konfrontiert, und man dürfe erwarten, daß sie vergangene Verbrechen erkennen und verurteilen. Doch in der Türkei gebe es kein Erinnern, der Mantel des Schweigens über den Völkermord an den Armeniern sei für das Land sogar geradezu „identitätsstiftend“ geworden. Die Leugnung dieses Verbrechens sei offizielle Staatspolitik. Nach einem in der Genozid-Forschung entwickelten Stufen-Modell steht die türkische Vergangenheitspolitik auf der letzten von zehn Stufen, die Leugnung als integralen Bestandteil eines Völkermords bewertet. Auch türkische Schulbücher folgen selbstverständlich dieser „pervertierten Geschichtsdarstellung“ (Für Vielfalt. Zeitschrift für Menschen- und Minderheitenrechte, 5/2022). Verwunderlich sei allerdings, warum in deutschen Schulen dieser Völkermord kaum unterrichtet werde. Nur in Brandenburg und Sachsen-Anhalt gab es dafür didaktische „Handreichungen“. 


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