Das „Sturmjahr“, wie man das Jahr 1848 gern nannte, war als Revolution ein Fehlschlag, ganz anders als die „Große“ Französische Revolution ab 1789 oder die Russische von 1917. Ob diese „geglückten“ Revolutionen deshalb als „Glück“ zu betrachten sind, ist mit Blick auf ihre Folgen allerdings zu bezweifeln. Der Blutzoll war 1848 zweifellos viel geringer. Das Spezifikum des Jahres 1848 war vielmehr der auf den ersten Blick nahezu „paneuropäische“ Charakter der Bewegung, in diesem Sinne vergleichbar mit dem Mauerfall 1989, der „samtenen Revolution“, die zumindest eine Hälfte Europas nachhaltig verwandelte.
Freilich, ganz so universal war 1848 nun doch wieder nicht: Die beiden politischen Extreme, das parlamentarische England und das autokratische Rußland, wurden genausowenig von ihr erfaßt wie Schweden oder Spanien. Bleibt der „großmitteleuropäische“ Raum, von Palermo bis Paris, wo es so eigentlich losging, über Prag und Preßburg, mit Ausläufern bis nach Galizien und in die Wallachei. Aber diese Bewegungen lassen sich schwer auf einen Nenner bringen. Man mag als verbindende Misere die Teuerung der Jahre zuvor anführen, aber wirkliche Hungersnot herrschte nur in Irland – und dort passierte gar nichts. Die Arbeiter in den frühen industriellen Zentren tendierten nach links, aber davon gab es erst wenige.
Und das romantische Muster der Unterdrückten, die sich gegen die Tyrannen erheben? Nun, gar so absolutistisch waren zumal die ersten Opfer der Revolution gar nicht: Frankreich war eine konstitutionelle Monarchie, auch in Südwestdeutschland hatte dieses Modell längst Fuß gefaßt. Die berühmte Offenburger Volksversammlung 1847 mit ihren 13 Forderungen war immerhin bereits Teil einer ganz regulären Wahlbewegung. Da ging es nicht mehr bloß um Freiheiten, sondern um Verteilungskonflikte, wenn man so will: „Klassenkampf“. Metternichs erste Reaktion war eine bezeichnend rechthaberische: Da sehe man, wohin der Liberalismus führe!
Vielleicht hilft die Beobachtung, daß es sich nicht bloß um unpopuläre Regierungen handelte – so was kommt schließlich oft vor –, sondern um schwache Regimes, die deshalb auch fast überall dem Volkszorn rasch nachgaben und ohne viel Federlesens „Märzministerien“ einsetzten, die „aggiornamento“ und „appeasement“ betrieben. Um nur die beiden vornehmsten Beispiele zu nennen: Der „Bürgerkönig“ in Paris dankte ab, in Wien wurde Metternich in die Wüste geschickt. Beide Mächte boten kein gutes Aushängeschild für das Prinzip der Erbmonarchie: In Frankreich war Louis-Philippe selbst erst durch eine Revolution an die Macht gekommen – und hatte keinen regierungsfähigen Nachfolger, dem er die Geschäfte hätte übergeben können; in Österreich war schon der gegenwärtige Kaiser Ferdinand als Epileptiker ganz offiziell für regierungsunfähig erklärt worden.
Die liberalen Forderungen verbanden sich mit den nationalen
Gefordert wurden Pressefreiheit und Volksbewaffnung (ganz im Sinne der ersten beiden US-Amendments, heutigen Progressiven wohl ziemlich suspekt!). Mitspracherechte der Bürger wurden gewährt oder erweitert. Wenn man die Leute aber schon fragte, wie sie regiert werden wollten, konnte man ihnen schwer verwehren, auch einen Gedanken daran zu verschwenden, in welchem Staat sie denn eigentlich leben wollten. „Dem Deutschen werde ein Vaterland und eine Stimme in dessen Angelegenheiten.“ Spätestens da verbanden sich in vielen Fällen die liberalen Forderungen mit den nationalen. Damit kommen wir zum Kern der Sache: Ein Großteil der bestehenden Staaten hatte ein Defizit an Legitimität aufzuweisen.
Dieser Befund galt für Italien, das von fremden Dynastien beherrscht wurde, die sich auf österreichische Bajonette stützten (von Venedig, das nach fast tausend Jahren Serenissima einer Zukunft als Provinzstadt entgegensah, einmal ganz abgesehen). Das galt in Deutschland für die Länder, die 1848 die Einfallspforte der Revolution bildeten. Bei ihnen handelte es sich nicht um altehrwürdige Duodezfürsten, sondern um die Kriegsgewinnler der Revolutionskriege, die irgendwelche bunt zusammengewürfelte Gebiete zugewiesen bekommen hatten, die vielfach auch konfessionell heterogen waren: Was das Rheinland betrifft, zählte da natürlich auch Preußen dazu. Für katholische Breisgauer, die zu Baden geschlagen worden waren, regiert von einer protestantischen „Skandaldynastie“, war eine gesamtdeutsche Republik als Alternative keine so absurde Vorstellung.
Nationale Einigung als probates Mittel für die Revolution
Vor diesem Hintergrund ist die Leistung der „Paulskirche“ zu beurteilen, der ersten – und aus der großdeutschen Perspektive betrachtet: einzigen – frei gewählten deutschen Nationalversammlung: Denn die nationale Einigung, als Umwandlung des Staatenbundes in einen Bundesstaat, mit all den Unschärfen, die derlei juristischen Dogmen in der Praxis anhaften, war nicht als revolutionäres Fernziel angelegt, sondern als probates Mittel, die Revolution zu schließen. Das Ergebnis sollte ein Kompromiß werden zwischen den radikalen Strömungen im Westen und dem Beharrungsvermögen im Osten, den Kerngebieten der deutschen Flächenstaaten, die bei allem Reformwillen an ihrer Dynastie doch festhalten wollten. So war in Bayern selbst die Bewegung gegen die Allüren und Amouren des Königs eine durchaus katholisch-konservative! Die Wahl des habsburgischen Prinzen Erzherzog Johann zum Reichsverweser, begleitet von allerlei koketten Distanzierungen („nicht weil, sondern obwohl er ein Fürst ist“), war charakteristisch für diese Politik der Diagonale, wie sie der Burschenschafter Heinrich von Gagern und seine Mitstreiter verfolgten.
„Seit Rudolf I. hat dem Hause Habsburg kein solcher Tag geleuchtet“, schrieb die Wiener Presse. Doch da lag der Hase im Pfeffer: Österreich war keineswegs der einzige Staat, der auch über Territorien außerhalb des Bundes verfügte, aber nirgendwo nahm dieses Problem derartige Dimensionen an. Die Habsburger wollten beides behalten: Die Vorrangstellung im Bund, der zum Reich werden sollte, und die Gebiete im Osten, mit ihren „interessanten Nationalitäten“. Die „Binnendeutschen“ waren bereit, die Führungsrolle der Österreicher zu respektieren, aber sie wollten nicht von deren Anhang majorisiert werden, allenfalls noch Tschechen und Slowenen zulassen, aber nichts außerhalb der alten Reichsgrenzen.
Eine Zeitlang schien es, als ob die Frage ohnehin hinfällig würde, weil die Polen, Ungarn und Italiener ihrerseits los von Wien wollten, doch dann begann die Armee sich unter dem Dreigestirn WIR (Windisch-Graetz, Jelacic, Radetzky) durchzusetzen: Die Militärs erklärten sich für Straßenkämpfe nicht zuständig, aber Feldschlachten und Bombardements, da waren sie in ihrem Element. Auch mit der „fratellanza dei populi“ war es nicht so weit her: Selbst dort, wo die Revolutionäre sich einig waren, das Gebiet der Monarchie unter seine Nationalitäten aufzuteilen, ergaben sich da doch immer Grenzkonflikte. Die Habsburger erkannten die Gefahren dieser Situation – und die Chancen, die sich daraus ergaben: Der Donauraum würde in ein Chaos zurückfallen – aber auf dieser Klaviatur ließ sich auch vortrefflich spielen, nach dem Muster: „Teile und herrsche!“ Die Polen spotteten, der kaiserliche Gouverneur Graf Stadion habe zu diesem Zweck die ukrainische Nation erfunden – und deren Amtssprache sei bis auf weiteres einmal deutsch. So erfolgte zu den Klängen des Radetzkymarsches, um den DDR-Slogan abzuwandeln, eine „großösterreichisch-militaristische Reichsgründung“, verbunden mit einer Absage an das großdeutsche Konzept der Paulskirche, die in ihrer Verzweiflung die Krone daraufhin den Preußen anbot – und erst recht eine Abfuhr erlitt.
Nationalversammlung wurde als „Professorenparlament“ verhöhnt
Die Paulskirche beendete ihre Verfassungsberatungen und ging dann heim. Ihre Tragik bestand darin, daß – sehr gegen den Willen ihrer Gründerväter – ihre Verfassung im Frühjahr 1849 die Revolution nicht schloß, sondern aufs neue anfachte. Die Nationalversammlung wurde darüber hinaus – zu Unrecht – verhöhnt als das „Professorenparlament“ (wer solche Gremien kennt, fürwahr kein Kompliment!). Fazit: Deutschland und Italien konnten auf keine „erfolgreiche“ Revolution zurückblicken. Kurioserweise halten oft gerade Leute, die momentan ängstlich für den politischen Status quo beten, dies in einem Anfall von „Ideologie“ für ein Versäumnis.
In Frankfurt riß keine revolutionäre Minderheit, Jakobiner oder Bolschewiki, das Gesetz des Handelns an sich und oktroyierte ihr Konzept der „schweigenden Mehrheit“. Der Verfassungsstaat, den weder die einen noch die anderen verwirklichten, kam auch so zustande: Die Finanzmärkte bestanden auf Gewaltenteilung und parlamentarischer Kontrolle. Die bürgerliche Revolution fand nicht auf den Barrikaden statt, sondern dort, wo sie hingehört, nämlich an der Börse.