Vor kurzem wurde ich von einer Gruppe progressiver Studenten und Akademiker eingeladen, an einer norwegischen Universität einen Vortrag über Demokratie zu halten. Die Erfahrung bestätigte viele meiner Vorbehalte gegenüber der aktuellen Entwicklung der politischen Linken in Europa. Ich sprach über den zunehmend oligarchischen und autoritären Charakter des westlichen Kapitalismus, insbesondere seit der Pandemie, über die jahrzehntelange Aushöhlung der nationalen Demokratie, den Kampf der Eliten gegen die Arbeiter, über die wachsende Macht von zügellosen und antidemokratischen internationalen und supranationalen Organisationen wie der EU, der WHO und dem WEF und über den gefährlichen Vorstoß der Nato in Richtung Konfrontation mit Rußland. Mit anderen Worten: Ich habe über Themen gesprochen, die Linke und Sozialisten bis vor nicht allzu langer Zeit als äußerst wichtig erachtet haben: Klasse, Demokratie, Imperialismus.
Aber während ich sprach, konnte ich sehen, wie das junge Publikum zunehmend unruhig wurde. Wie private Gespräche mit einigen der Anwesenden später deutlich machten, wurden diese Themen als wenig interessant, wenn nicht sogar als „rechts“ angesehen – vor allem, was die Kritik am Pandemiemanagement betraf. Es gab nur ein Thema, das die Studenten zu diskutieren schienen und das auch die meisten anderen Sitzungen der Konferenz in Anspruch nahm: der Klimawandel. Was könnte Norwegen tun, um das Problem des Klimawandels anzugehen und seinen CO2-Fußabdruck zu verringern? Was wäre der schnellste Weg für das Land, seine Netto-Null-Ziele zu erreichen? Für viele lag die Antwort auf der Hand: Der Staat muß eine viel aggressivere, proaktivere Rolle bei der Förderung der Nutzung erneuerbarer Energien übernehmen.
Für viele der Anwesenden stellte die Pandemie in dieser Hinsicht sogar eine positive Blaupause dar, da sie die Macht des Staates demonstrierte, Gesellschaften radikal umzugestalten, wenn er es will. Ich fand diese Ansichten sehr beunruhigend und war noch überraschter, als ich herausfand, daß Norwegens Beitrag zu den weltweiten CO2-Emissionen … 0,1 Prozent beträgt. Mit anderen Worten: Was auch immer Norwegen verändert, es macht keinen Unterschied im Vergleich zu den weltweiten CO2-Emissionen. Als ich das Thema ansprach, schienen die Anwesenden zutiefst beleidigt zu sein. An diesem Punkt wurde mir klar, daß es wahrscheinlich eine gute Idee wäre, das Thema zu wechseln.
Diese Eindrücke bringen die Probleme mit der Besessenheit der heutigen Linken vom Klimawandel sehr gut auf den Punkt. Da wäre zunächst ihr Tunnelblick-Ansatz. Natürlich sollte über den menschengemachten Klimawandel und mögliche Abhilfemaßnahmen diskutiert werden können. Viele sind besorgt über die Umweltzerstörung unseres Planeten, die weit über mögliche Auswirkungen des Klimawandels hinausgeht. Aber wenn der Fokus auf den Klimawandel auf Kosten aller anderen Probleme geht, dann wird er selbst zum Problem. Wenn der Klimawandel selbst in den Ländern des Westens, die nur wenig zu den globalen Emissionen beitragen, Streitpunkte wie die wirtschaftliche Ungleichheit oder sogar die Aussicht auf einen Atomkrieg in den Schatten stellt, dann wird klar: Jeglicher Sinn für eine vernünftige Perspektive ist der Linken verlorengegangen.
Dies hängt mit einem zweiten Problem zusammen: Die jüngeren Generationen, die die meiste Zeit ihres Lebens in einen Kontext von „Klima-Pessimismus“ eingetaucht sind, sind mehr oder weniger bewußt zu der Überzeugung gelangt, daß das Leben auf dem Planeten dem Ende entgegengeht. Dies führt zu allen möglichen kognitiven Verzerrungen. Tausende von jungen Menschen in der westlichen Welt leiden heute unter „Klimaangst“. Laut dem jüngsten UN-Bericht über die menschliche Entwicklung ist die Welt pessimistischer als je zuvor in der modernen Geschichte. Die Anzahl der Depressionen und anderer Formen psychischer Probleme steigt seit Jahrzehnten. Übermäßig negative Wahrnehmungen der Welt und ihrer Zukunft haben stark zugenommen. Und so viel ist sicher: Die ständigen Erzählungen über das Ende des Planeten haben eine ganze Menge damit zu tun.
Durch die Annahme einer apokalyptischen Weltsicht – also der Idee, daß wir entweder noch alles in Ordnung bringen werden oder wir am Arsch sind – ist demnach alles gerechtfertigt, um „den Planeten zu retten“, einschließlich aller Arten von autoritären Eingriffen. Das ist wie Zero Covid auf Steroiden. Wenn doch das Überleben des Planeten auf dem Spiel steht, können wir nicht zulassen, daß die Komplexität demokratischer Debatten und Überlegungen uns daran hindert, das Notwendige zu tun, trichtern uns die „Fridays for Future“-Aktivisten ein.
Schlimmer noch ist, daß sie damit indirekt die Eliten von Davos ermächtigen, die den „Klimanotstand“ zu nutzen versuchen, um das zu tun, was sie am besten können: eine Umstrukturierung des kapitalistischen Systems durchzusetzen, die darauf abzielt, unter dem Deckmantel der Rettung des Planeten Kapital und Reichtum in immer weniger Händen zu konzentrieren. Schließlich ist es leicht zu erkennen, wie ihre Appelle, „weniger zu konsumieren“, in eine Politik münden können, die schlußendlich darauf abzielt, den Normalbürger ärmer zu machen.
Darüber hinaus stärkt der „Doomerismus“ unweigerlich den Kult des Globalismus, der uns propagiert, daß die Herausforderungen, vor denen wir stehen, so tiefgreifend sind, daß sie nur durch supranationales Handeln gelöst werden können. Klimaaktivisten vertreten diesen Standpunkt vielleicht nicht ausdrücklich, aber er ist die unvermeidliche Konsequenz ihrer Logik. Das ist höchst problematisch, denn es bedeutet eine weitere Isolierung der Politik von der Demokratie, indem der Entscheidungsprozeß von der nationalen und internationalen Ebene, wo die Bürger zumindest theoretisch noch in der Lage sind, einen gewissen Einfluß auf die Politik auszuüben, auf die supranationale Ebene verlagert wird. Dort entscheiden nicht gewählte, nicht rechenschaftspflichtige „Stakeholder“ – hauptsächlich große Konzerne –, die einen massiven Einfluß auf globale Entscheidungen haben, die alles betreffen, von der Energie- und Nahrungsmittelproduktion bis hin zu den Medien oder dem öffentlichen Gesundheitssystem.
Die Folgen davon werden deutlich, wenn wir uns die verschiedenen „Globalen Agenden“ ansehen, die von Institutionen wie der Uno, der Weltbank und dem Weltwirtschaftsforum fortlaufend aufgestellt werden. Ideen wie „Sustainable Development Goals“ (Ziele für nachhaltige Entwicklung), die in der Agenda 2030 verankert sind, oder auch „Net Zero“ (Klimaneutralität) mögen sich auf dem Papier gut anhören. Doch ihre praktische Umsetzung erweist sich als widersprüchlich und trifft deshalb zu Recht auf harten Widerstand. In den Niederlanden hat der Vorschlag von Ministerpräsident Mark Rutte, die Stickstoffemissionen in der Landwirtschaft drastisch zu reduzieren, massive Proteste unter denen ausgelöst, die dies als Teil eines umfassenderen Plans grüner Eliten sehen, das internationale Lebensmittelsystem neu zu gestalten. Sie verweisen darauf, daß Rutte ein Posterboy und Agenda-Zuträger des Weltwirtschaftsforums ist, der auch zu den vehementesten Befürwortern von „Net Zero“ gehört. Nach Ansicht der protestierenden Landwirte führt dieser Schritt dazu, Kleinbauern aus dem Markt zu drängen, damit sie von multinationalen Agrarriesen aufgekauft werden können. Ähnliche Proteste sind in mehreren Ländern, vor allem in Entwicklungsländern, ausgebrochen, nachdem Institutionen wie das Weltwirtschaftsforum und die Weltbank Druck auf diese Länder ausgeübt haben, die Subventionierung fossiler Brennstoffe einzustellen oder Düngemittel in der Lebensmittelproduktion zu verbieten.
Damit verdeutlicht sich noch ein ganz anderes Problem des Klimaaktivismus: sein Westzentrismus. Unabhängig davon, was wir im Westen tun, gibt es Milliarden von Menschen, die in Ländern wie Indien noch immer in Armut leben, ganz zu schweigen von denen in Afrika. Sie alle streben zu Recht nach den Annehmlichkeiten der Industrialisierung, was in den kommenden Jahren einen kolossalen Anstieg der Energienachfrage verursachen wird. Bedauerlicherweise werden die Bestrebungen der ärmsten Länder der Welt durch ein pauschales Verbot der Finanzierung der Erschließung fossiler Brennstoffe im Namen der Eindämmung des Klimawandels behindert. Noch unglaublicher ist, daß die meisten Entwicklungsbanken sogar die Kernenergie ausschließen – eine saubere, emissionsfreie Energiequelle. Der Klimawandel wird also als Vorwand genutzt, um Entwicklungsländer in wirtschaftlicher Abhängigkeit vom Westen zu halten.
Man kann also über den Klimawandel und den Zustand des Planeten besorgt sein, doch man muß zugleich skeptisch gegenüber der Vorstellung bleiben, daß diese Probleme durch technokratische Lösungen von oben nach unten gelöst werden können. Denn die Problemlösungen werden den Nationen durch megareiche, Davos besuchende, Privatjets fliegende, durch Konzerne gestützte, politische Eliten dieser Welt aufgezwungen – den Menschen an der absoluten Spitze der globalen kapitalistischen Machtpyramide. Und es wäre in der Tat alles andere als abwegig zu behaupten, daß letztere Hintergedanken haben, wenn sie die „grüne Revolution“ unterstützen. Das ist das ultimative Paradoxon des radikalen Klimaaktivismus von „Fridays for Future“ oder „Extinction Rebellion“: Seine Befürworter geben zwar vor, den Kapitalismus stürzen zu wollen, aber ihre Ideologie stärkt in Wirklichkeit die globalistischen kapitalistischen Eliten, die sie angeblich bekämpfen wollen.
Thomas Fazi, Jahrgang 1982, lebt als freier Journalist in Rom. Er schreibt regelmäßig für die englischsprachigen Magazine „UnHerd“ und „Compact“. In Deutschland publiziert er beim linken Wirtschaftsmagazin „Makroskop“. Im Januar 2023 erschien sein neuestes (und bislang nicht auf deutsch übersetztes) Buch „Der Corona-Konsensus: Der globale Angriff auf die Demokratie und die Armen – eine Kritik von links“.