Heute schon so richtig gegruselt? Das Deutsche Hygiene-Museum Dresden macht es bis 10. September möglich. Beispielsweise zeigt ein Videomitschnitt Geburt und Tod eines Pyrenäensteinbocks, einer eigentlich ausgestorbenen Art. Wissenschaftler wagten es 2003, Gott zu spielen, und sind – was die einen bedauerten und andere aufatmen ließ – gescheitert. Das aus kryokonservierten Zellen geklonte Tier, das per Kaiserschnitt auf die Welt geholt wird, lebt qualvolle sieben Minuten, bevor es erstickt, weil die Lunge nicht gut genug ausgebildet ist. Trotzdem „steht die Wiederbelebung ausgestorbener Arten in Aussicht“, liest der staunende Besucher. Die Möglichkeiten, Erbgut zu bewahren und zu verlängern, haben sich vervielfacht.
In der Dresdner Sonderschau „Von Genen und Menschen. Wer wir sind und werden könnten“ ist dieses Experiment eingebettet in eine Installation des Künstlers Christian Kosmas Mayer, die „die lokal verankerte Kulturgeschichte des Bucardo und die Geschichte seiner kurzzeitigen Wiederbelebung durch materielle Zeugnisse miteinander in Beziehung setzt“, wie es im Begleittext heißt. Ein Stück weiter ist etwas zu sehen, was wie das Skelett eines Sauriers aussieht, aber in Wirklichkeit das leistungsstarke Masthuhn „Ross 308“ darstellt, mittels genetischer Veränderungen von der Firma Aviagen gezüchtet und hier dank 3D-Druck auf drei Meter vergrößert. Mahnend erhebt sich der Zeigefinger der Kuratoren: Die Darstellungsweise rege „zum kritischen Blick“ an.
Gene, Erbgut, Züchtungen – Besuchern schwirrt der Kopf
Die kunstvollen Installationen sind der letzte Teil der Ausstellung – und da es keinen Rundweg gibt gleichzeitig eine Sackgasse. Für die Besucher die Gelegenheit, sich auf Stühle niederzulassen, einen Film über die Vervielfältigung einer Saatgutsammlung zwischen Syrien, der Arktis und dem Libanon zu sehen und das geballte Wissen der vorherigen drei Teile der Exposition sacken zu lassen. Gene, Erbgut, Züchtungen, das 1994 gezeugte Klonschaf Dolly, die gerade in China durch somatischen Zellkerntransfer geklonten Superkühe, die Doppelhelixstruktur der DNA, Genschere und mRNA-Impfstoffe – unterteilt in die drei Komplexe Herkunft, Identität, Gesundheit – der Kopf schwirrt. Wissen aus der Schule, Informationen aus den Medien und Science-fiction aus Literatur und Medien mischen sich – wie bekommt man das sortiert?
Zudem die Genforschung von jeher eine Projektionsfläche für Hoffnungen und Horrorszenarien ist. Unvergeßlich wie der Satz, es liegt an den Genen, ist der Jubel von US-Präsident Bill Clinton im Jahr 2000, daß „wir jetzt die Sprache lernen, in der Gott das Leben schuf“ und für unsere Enkel Krebs nur noch ein Sternzeichen sein werde.
Daß die Wissenschaftler noch immer am Anfang stehen, hängt mit den unvorstellbaren Datenmengen zusammen. Allein bei der Durchleuchtung des Erbgutes der fünfzig häufigsten Krebsarten, könnte die Menge an entzifferter Erbinformation leicht das 10.000fache des Humangenom-Projekts erreichen, so Francis Collins, Begründer des Krebsgenom-Atlas. Das zerstörerische Wachstum eines Tumors ist wesentlich auf genetische Veränderungen in der Zelle zurückzuführen. Allerdings trägt eine Vielzahl von Gen-Varianten zum Krankheitsrisiko bei, so daß die Wissenschaftler förmlich in den DNA-Daten ertrinken.
Der DNA-Faden der 23 menschlichen Chromosome umfaßt etwa 3,2 Milliarden Gen-Buchstaben. Diese „Software des Lebens“ würde ausgeschrieben etwa 3.000 Bücher füllen, jedes Buch 1.000 Seiten à 1.000 Buchstaben dick. Das Erstaunliche dabei ist, daß der größte Teil dieser „Buchstaben“ keine genetischen Informationen enthält. Wozu dienen sie aber dann aber, als Ballast?
Molekulargenetikerin Doreen William, die am Dresdner Uniklinikum zu Tumorzellen forscht, bringt einen treffenden Vergleich: Es sei, als würde man jemandem ein Buch auf Altdeutsch oder Latein vorlegen, der diese Sprachen nicht kennt. Er kann die Schrift zwar lesen, versteht aber inhaltlich nur wenig. Und der Wissenschaftsjournalist Peter Spork schreibt über das Zusammenwirken von Genom und Epigenom: „Erbgut und Proteine funktionieren wie eine riesige Bibliothek: die DNA enthält dabei die Texte, während die epigenetischen Strukturen die Bibliothekare, Ordner und Register sind, die die Informationen verwalten und sortieren.“
Das Humangenom-Projekt war ein internationales Forschungsobjekt mit dem Ziel, das Genom des Menschen vollständig zu entschlüsseln, insbesondere die Sequenz der etwa drei Milliarden Basenpaare der DNA zu finden. Seit Mai 2021 gilt das menschliche Genom als vollständig entschlüsselt. Es umfaßt statt der ursprünglich erwarteten mindestens 100.000 Gene lediglich 19.969 Gene. Von der Komplexität ihrer Arbeit und damit des menschlichen Organismus erzählen in der Ausstellung zahlreiche Wissenschaftler. Auch von Uneindeutigkeiten, Zweifeln und Korrekturen. „Im Rückblick waren unsere damaligen Ansichten über die Funktionsweise des Genoms dermaßen naiv, daß es fast schon peinlich ist“ sagt John Craig Venter, Biochemiker und Unternehmer, der am 27. Juni 2007 sein komplettes Genom online stellte – ein doppelter Chromosomensatz mit sechs Milliarden Buchstaben.
Die Erkenntnis, daß alle Menschen etwa 99,9 Prozent ihres Erbguts gemeinsam haben und mit dem Schimpansen, als nächsten Verwandten, mehr als 98,5 Prozent, relativiert sich bei der Größe des Genoms von etwa drei Milliarden Basenpaaren. Nicht nah verwandte Menschen unterscheiden sich also in Millionen von Basenpaaren, was zu speziellen Merkmalen wie Körpergröße, Hautfarbe, aber auch Anfälligkeit für verschiedene Krankheiten und möglicherweise auch psychische Faktoren führt. Ein weiterer Durchbruch gelang im März 2022. Seitdem liegt die Reihenfolge der mehr als drei Milliarden DNA-Bausteine vollständig vor.
Auswirkungen menschlicher Genomeditierung sind umstritten
Die Ausstellung hangelt sich an den Meilensteinen der Genforschung entlang: der Entdeckung der DNA-Struktur in den 1950er Jahren, der Sequenzierung des Neandertalergenoms, der Genschere und den modernen mRNA-Impfstoffen, die bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie zum Einsatz kamen. Die medizinischen, ethischen und rechtlichen Auswirkungen menschlicher Genomeditierung sind noch immer umstritten. Zwar gilt eine klinische Anwendung von Keimbahneingriffen noch als unverantwortlich, wird aber auch nicht mehr kategorisch ausgeschlossen.
Gleichzeitig mehren sich Stimmen, die davor warnen, den Einfluß der Gene zu überschätzen, diese würden auch durch die Umwelt beeinflußt. Es sei spannend, sagt Kuratorin Viktoria Krason beim Rundgang, „ob wir von unseren Genen bestimmt werden oder von unserer Umwelt und unseren Erfahrungen“. Die Antwort dürfte in der Mitte liegen. Denn beispielsweise haben musikalisch aktive Menschen ein etwas höheres genetisches Risiko für Depressionen und biopolare Störungen.
Zu dieser Erkenntnis sind Wissenschaftler gelangt, die eine bereits 2019 erstellte Studie, in der mehr als 10.000 Schweden – alles Zwillingspaare – über ihre musikalischen Aktivitäten und ihr psychisches Wohlbefinden Auskunft gaben, um Methoden der Molekulargenetik erweiterten. Das Ergebnis: Genetische Varianten, die psychische Probleme beeinflussen, und solche, die auf musikalisches Engagement einwirken, überschneiden sich teilweise. Dafür wurde die DNA von 5.648 Menschen untersucht. Die aktuelle Vermutung der Forscher: Dieselben Gene beeinflussen sowohl musikalisches Engagement als auch die psychische Gesundheit. „Genetisches Moll“ nannte das der Tagesspiegel, der die vorsichtigen Vermutungen der Wissenschaft kühn in die Schlagzeilen-Schlußfolgerung zusammenfaßte: „Musiker neigen eher zu Depressionen“.
Am deutlichsten zeigen das die Ergebnisse bei der Suche nach den Schizophrenie-Erbfaktoren. Von einem „Pearl Harbor der Schizophrenieforschung“ schreibt die New York Times, als 2009 die Ergebnisse von gleich drei Studien bekanntwerden. Die Wissenschaftler teilen übereinstimmend mit, daß Tausende von subtilen Veränderungen in den Erbanlagen in das Ausbrechen von Wahnideen führen können. Immerhin können Gentests mittlerweile eine Veranlagung für Alzheimer und Diabetes ans Licht bringen. Auch konnten für einige Krankheiten die verantwortlichen Gene identifiziert werden. Insgesamt ist die Komplexität des menschlichen Organismus aufgrund seines Genoms bis heute nicht zu erklären. Unklar ist beispielsweise noch der Informationsausschuß zwischen den Genen und die Genregulierung.
Trotzdem, die Fortschritte sind unübersehbar und im Begriff, „unser Verständnis von Herkunft, Identität und Gesundheit zu verschieben“, heißt es in der Ausstellung, die schwerpunktmäßig die aktuellen Erkenntnisse der Genforschung aus der Perspektive der Sozial- und Kulturwissenschaftler hinterfragt und zwar – wie gewohnt vom Hygiene-Museum – mit Objekten aus Alltag und Wissenschaft, Kultur und Geschichte sowie Positionen der zeitgenössischen Kunst. Spannend sind jene Stationen, die dazu einladen, selbst herauszufinden, „wer wir sind und werden könnten“. Und da ist dann auch erneut der erhobene Zeigefinger der Kuratoren. Sich selbst kritisch zu beobachten, sei natürlich eine Eigenschaft der westlichen Gesellschaften, also des bösen weißen Mannes, die private Ahnen- und Herkunftsforschung durch DNA-Tests sowieso.
Daß alles im Wandel ist, zeigt auch die Einschätzung der 2014 erstmals erfolgten Veränderung der Keimbahn von Primaten. Die Frage nach dem Ob der Eingriffe weicht zunehmend der Debatte über die Bedingungen einer klinischen Anwendung. Über die Frage, ob das „technisch Machbare auch das ethisch Vertretbare“ ist, sollen die Besucher interaktiv abstimmen.
Die Ausstellung „Von Genen und Menschen.
Wer wir sind und werden könnten“ ist bis zum
10. September im Deutschen Hygiene-Museum, Lingnerplatz 1, Dresden, täglich außer montags von 10 bis 18 Uhr zu sehen. Der Eintritt beträgt
10 Euro (ermäßigt 5 Euro). Besuchertelefon:
0351 / 48 46-400
Der Begleitband mit 224 Seiten und ca. 100 farbigen Abbildungen kostet 20 Euro.