© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 11/23 / 10. März 2023

Filme pflastern seinen Weg
Kino: Steven Spielbergs Familiendrama „Die Fabelmans“ ist eine betörende Reminiszenz an seine kindlichen Anfänge als Filmemacher
Dietmar Mehrens

Ob das wirklich so eine gute Idee war, den kleinen Sam mit in die Vorstellung von „The Greatest Show on Earth“ (1952) zu nehmen? Das spektakuläre Zugunglück, das der Film täuschend echt nachbildet, verfolgt den Jungen noch tagelang bis in seine Träume. Und er hatte es geahnt: Dunkel, war er vorab von seinen Eltern instruiert worden, sei es in dem Raum, in den sie ihn mitnehmen möchten, und das Ganze wie ein Traum. „Träume machen angst“, hatte der Junge ihnen entgegengehalten. Und nun haben sie den Salat: Die Angst ist geblieben. Da hat sein Vater Burt (Paul Dano) die rettende Idee: Wenn er das Eisenbahnunglück mit seiner Modellbahn nachstellt und die Szene abfilmt, kann der Junge das traumatische Erlebnis immer wieder anschauen und so bewältigen.

Die heimelige heile Welt der Familie droht jäh zu zerbrechen

Da der kundige Kinozuschauer natürlich längst weiß, daß Steven Spielbergs neuer Film eine cineastische Hommage an seine orthodox-jüdische Familie ist, seine Eltern und drei Schwestern, die das Leben und die Karriere des Meisterregisseurs maßgeblich geprägt haben, ist eigentlich klar, wozu sich diese innovative Form der Traumabewältigung auswachsen wird: Film für Film tastet sich Sam (Gabriel LaBelle) in den nächsten Jahren heran an das, was ihm als Traumberuf vor Augen steht: professionelles Filmemachen.

„Der Mann, der Liberty Valance erschoß“ (1962) inspiriert ihn zu seinem Western „Gunsmog“, an dem die ganze Familie mitwirkt. Passenderweise ist die inzwischen von New Jersey nach Arizona umgezogen, für eine Westernkulisse genau der richtige Bundesstaat. Die nächste Stufe ist der Kriegsfilm „Escape to Nowhere“, mit einer Horde von Freunden ebenfalls in der Wüste von Arizona gedreht. Das Vierzig-Minuten-Werk über Rommels Wüstenkrieg gibt es tatsächlich. Spielberg gewann damit einen Amateurfilmpreis.

Zu einem Schlüsselerlebnis wird für den Heranwachsenden die Begegnung mit seinem skurrilen Onkel Boris, einem Zirkuskünstler, der ahnt, was dem Jungen bevorsteht: Familie und Kunst – dieser Spagat werde ihn in zwei Stücke reißen. Kunst zu machen sei nämlich, wie den Kopf in den Rachen eines Löwen zu stecken. Trotzdem ermutigt er den Jungen, den Schritt in die Welt der Künste zu wagen. Etwas skeptischer ist Sams Vater, ein erfolgreicher Ingenieur und Computer-Pionier, der die Ansicht vertritt, sein Sohn solle „etwas Reales“ machen, anstatt nur dem Hobby zu frönen. Seine Mutter Mitzi (Michelle Williams), eine Pianistin, ist dagegen total begeistert von Sams Talent. Doch ihre mangelnde psychische Stabilität wirft immer dunklere Schatten auf das Familienidyll. Anders als der bodenständige Burt ist Mitzi sprunghaft, emotional erschütterbar, oft wie ein Blatt im Wind. Und da Sams wachem Kameraauge nichts entgeht, entdeckt er schließlich ein verräterisches Detail, das niemals auf Zelluloid hätte gebannt werden dürfen – eine ungeheuerliche Wahrheit, durch die die heimelige heile Welt der Fabelmans jäh zu zerbrechen droht.

Auch wenn eigentlich der Werdegang des jungen Filmtalents im Blickpunkt von Spielbergs Tragikomödie steht, ihr schillerndes Zentralgestirn ist ­Michelle Williams als Mitzi. Die Schauspielerin, Ende der Neunziger bekannt geworden durch die Jugendserie „Dawson’s Creek“, verkörpert eindrucksvoll die komplexeste Figur des autobiographischen Werks und legt einen emotional wuchtigen Auftritt nach dem anderen hin. Es ist vor allem der Strahlkraft der Hauptdarstellerin zu verdanken, daß „Die Fabelmans“ so glitzern.

Trotz makelloser Inszenierung hat der Film nämlich ein Manko: das Episodenhafte der Handlung, die einige Sprünge machen muß, um den Zeitraum von 1952 bis Mitte der sechziger Jahre abzudecken. Alle kurzweiligen Anekdoten mit eigenem Spannungsbogen, die für sich genommen blendend unterhalten, können nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Haupterzählung, die alle Episoden als roter Faden durchzieht, Sams Weg zum Erfolg, eher spannungsarm ist.

Alles in allem hinterläßt der Film jedoch einen stärkeren Eindruck als der belanglose Neuaufguß der „West Side Story“, mit dem die lebende Kinolegende ins letzte Oscar-Rennen ging. „Die Fabelmans“, in sieben Sparten nominiert, können sich bei der diesjährigen Goldjungs-Verleihung also durchaus Hoffnungen machen, und Michelle Williams ist sowieso mal dran.