Seine 1962 veröffentlichte Habilitationsschrift „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ nennt Jürgen Habermas im Rückblick nach 60 Jahren sein, „am Absatz gemessen erfolgreichstes Buch“. Was diesen Verkaufserfolg begründete, darüber allerdings schweigt sich der Bilanz ziehende und auf den aktuellen, den von der digitalisierten Kommunikation ausgelösten Strukturwandel blickende Autor vornehm aus. Nicht weil er sich in Bescheidenheit übt, sondern weil die Fähigkeit zur Selbstkritik nicht zu seinen hervorstechendsten Eigenschaften zählt.
Um die anhaltende Nachfrage nach den zum Klassiker der politischen Theorie der Gegenwart avancierten „Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft“ zu erklären, hätte Habermas die über Generationen hinweg ungebrochene Faszination des Utopischen thematisieren müssen, die die darin bereits vorgeformte Verheißung des „kommunikativen Handelns im herrschaftsfreien Diskurs“ auf bundesdeutsche Intellektuelle, Journalisten, Studenten und Politiker vor der „Zeitenwende“ ausgeübt hat. Was zwangsläufig auf eine Abrechnung mit der eigenen Realitätsblindheit hinausgelaufen wäre, die vom „Strukturwandel“ an das publizistische Gesamtwerk des inzwischen 93jährigen Staatsphilosophen der Bonner und Berliner Republik prägt, das stets der größenwahnsinnig anmutenden Maxime gefolgt ist: „Demokratie arbeitet an der Selbstbestimmung der Menschheit, und erst wenn diese wirklich ist, ist jene wahr.“
Das Interesse an politischer Partizipation nimmt rapide ab
Im „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ geht Habermas davon aus, daß die westeuropäischen Gesellschaften des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts diesem Ziel schon näher waren als die Industriegesellschaften des Massenzeitalters. Damals entstand ein öffentlicher Raum, in Lesevereinen, Leihbibliotheken, Konzerten, Kaffeehäusern, wo sich das gebildete Bürgertum zunächst über Fragen der Literatur, der Mode und Moral austauschte, bevor es dann gemeinsame Anschauungen auch über die Gestaltung des Gemeinwohls formulierte und hierin ein Mitspracherecht forderte. Ein Prozeß, der dann 1776 in Nordamerika und 1789 in Frankreich in den Aufbau „geschichtlich vorbildloser demokratischer Verfassungsordnungen“ mündete.
Dieses sich im kantischen Sinne im Medium rationaler Kommunikation aus seiner „Unmündigkeit“ herausarbeitende und zur Teilhabe am öffentlichen Leben drängende, nach Freiheit und Selbstverwirklichung durch rechtlich abgesicherte Selbstbestimmung verlangende Besitz- und Bildungsbürgertum ist das Vorbild, an dem sich Habermas’ Begriff von „wahrer Demokratie“ orientiert.
Der mündige Bürger ist
vom Aussterben bedroht
Gemessen daran kann er 1962 den Strukturwandel der Öffentlichkeit nur als Verfallsgeschichte schreiben. Denn aufgrund der im US-Exil gemachten Erfahrungen mußten sich bereits seine Lehrer Max Horkheimer und Theodor W. Adorno vom Gedanken an ein revolutionäres, zur vernünftigen Lebensordnung hinstrebendes Publikum verabschieden. Der fortgeschrittene Kapitalismus, so lautete die kulturpessimistische Diagnose der beiden Linksliberalen, habe die soziale Basis liberaler Freiheiten und damit auch das Vertrauen in die politische Kompetenz des autonomen Subjekts zerstört. An die Stelle der über den Status quo kritisch räsonierenden, zwar nicht mehr zu Revolutionen, aber doch zu Reformen in Permanenz aufgelegten mündigen Bürger, die gleichberechtigt nach vernünftigen Regelungen ihres Zusammenlebens suchen, seien passive Objekte massenmedialer Manipulation getreten.
Die öffentliche Meinung richte sich daher, wie Habermas 1962 erkennt, längst nicht mehr, wie noch zur Vormärz-Ära, nach der anspruchsvollen Vorstellung „deliberativer“, über den richtigen Weg zu einer menschenwürdigen Ordnung „beratender“, streitender und schließlich den „besseren Gründen“ gehorchender Politik. Im Gegenteil, empirische Studien über das Wahlverhalten, den Informationsstand und das politische Bewußtsein der „Bevölkerung“ aus jüngster Zeit bestätigen, was sich in den von Konsum und Kommerz beherrschten westlichen Nachkriegsgesellschaften deutlich abzuzeichnen begann: den Trend zur Entpolitisierung. Wie an sinkenden Wahlbeteiligungen ablesbar ist, nehme das Interesse an politischer Partizipation rapide ab. Der mündige Bürger steht in den postdemokratischen Zeiten des „Überwachungskapitalismus“ offensichtlich auf dem Aussterbeetat.
Diese „politische Regression“ dürfte sich durch die Entgrenzung und Fragmentierung, wie sie sich in der digitalisierten Öffentlichkeit vollziehe, noch verstärken. Ungeachtet dessen glaubt der weltfremde Professor Habermas, der schon wachsende Zweifel an der Qualität öffentlich-rechtlicher Medien nicht teilt, der „entnationalisierten“ Öffentlichkeit des Weltnetzes eine Struktur aufzwingen zu können, die den im 18. Jahrhundert geborenen „deliberativen Charakter der öffentlichen Meinungs- und Willensbildung“ weiterhin garantieren und bewahren soll.
Genauso unbelehrbar glaubt er allerdings auch fest daran, daß rationale demokratische Willensbildung, die in Deutschland und Westeuropa eingebettet gewesen sei in „verletzbare Gewebe kultureller Selbstverständlichkeiten, historischer Erinnerungen und tradierter Überzeugungen, Praktiken und Wertorientierungen“, die sich „von Generation zu Generation“ erhalten hätten, auch unter den Bedingungen der Masseneinwanderung aus islamischen Ländern möglich sein werde. Jedoch nur, hofft Habermas gegen alle besseren Gründe der Vernunft, soweit Muslime ebenso wie Europäer zu abstrakten Vernunftsubjekten ohne ethnisch-kulturellen „Hintergrundkonsens“ mutierten und „normatives Einverständnis unter Fremden“ entstehe. Obwohl doch der individuelle Freiheit und Selbstbestimmung verdammende Islam zu den von Habermas zum zivilisatorischen Nonplusultra erhobenen westlichen „pluralistischen Gesellschaften ohne gemeinsame Religion oder Weltanschauung“ paßt wie die Faust aufs Auge.
Jürgen Habermas: Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik, Suhrkamp Verlag, Berlin 2022, 109 Seiten, 18 Euro