© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 11/23 / 10. März 2023

Die Radikalen der Mitte
Konservatismus: Das traditionelle bürgerliche Milieu hat mit rapiden Bedeutungsverlusten zu kämpfen
Björn Harms

Wenn es um die Zukunft des Konservatismus geht, haben viele Angehörige des Milieus ihre Begriffe schnell bei der Hand. Sie wünschen sich das Schärfen eines Bewußtseins für Familie, Heimat, Nation, Tradition oder Religion und sehnen sich eine bürgerlich-konservative Wende herbei. Das Problem ihrer Argumentation zeigt sich jedoch rasch: Es sind zu häufig Projektionen, entnommen einer Welt, die es nicht mehr gibt. Nicht nur werden zur näheren Beschreibung der Wirklichkeit meist überholte Kategorien benutzt, schlimmer noch, die postulierten Vorstellungen blenden die soziologischen Realitäten meist völlig aus. Man hängt in der bundesrepublikanischen Vergangenheit fest, hat keinen Bezug zur Gegenwart, ganz zu schweigen vom fehlenden „Mythos“, der einen Konservatismus in die Zukunft führen könnte.

Denn wie ist unsere heutige Welt beschaffen? Politik und Wirtschaft sind längst durchdrungen von einer technokratischen und universalistischen Bürokratie, in denen die alten, bürgerlichen Eliten keine Rolle mehr spielen. Den Alltag bestimmen nicht bürgerlich-liberale Denk- und Lebensformen, sondern die egalitär-massendemokratische Kon-

sumhaltung. Die ökonomische Macht liegt nicht mehr in den Händen von mittelständischen Familienunternehmen, vielmehr hat sie sich auf riesige Oligopole verlagert, deren internes Leben einem anonymisierten Labyrinth gleicht. Der unantastbare Patriarch vom Typus Wolfgang Grupp wurde abgelöst durch die austauschbare Manager-Gestalt, wie sie der ehemalige Karstadt-Chef Thomas Middelhoff verkörperte.

Auf den Einflußverlust der bürgerlichen Eliten folgt(e) auch die Auflösung des traditionell-konservativen Milieus in seiner Breite. In der jüngsten Sinus-Milieu-Studie von 2021 („Das Ende der bürgerlichen Mitte wie wir sie kannten“) machte das „traditionelle Milieu“ gerade noch zehn Prozent der Bevölkerung aus, das „konservativ-gehobene Milieu“ elf Prozent. Die Zahlen sinken seit Jahren, die Tendenz zeigt nach unten. Abgelöst wurden die bürgerlich-konservativen Milieus gerade unter jungen Leuten der Mittel- bis Oberschicht vom urbanen „postmateriellen Milieu“, das sich fest an progressive Werte und den Wunsch nach Diversität klammert. Die gutsituierten CDU-Wähler haben Kinder bekommen, die eine grüne Zukunft wollen.

Auch eine repräsentative Befragung, deren Ergebnisse im vergangenen Jahr im Bericht des Ostbeauftragten der Bundesregierung veröffentlicht wurden, verdeutlicht diese Entwicklung. Die verantwortlichen Sozialwissenschaftler teilten die Befragten anhand ihrer Antworten auf gesellschaftspolitische Fragen in vier soziologische Cluster: offen und liberal, kleinbürgerlich-konservativ, verdrossene Populisten und angepaßte Skeptiker. Es zeigt sich: Das kleinbürgerlich-konservative Milieu hat mit rapiden Bedeutungsverlusten zu kämpfen. Während es vor zwei Jahren noch 31 Prozent der Bevölkerung ausmachte, waren es 2022 nur noch 24 Prozent. Auch hier zeigt die Tendenz seit Jahren nach unten. Zumal jenes Milieu weitaus älter ist als der Durchschnitt der Bevölkerung.

An einen dezidiert konservativ-bürgerlichen Nachwuchs ist überhaupt nicht mehr zu denken.  Die Financial Times machte anhand von Wählerdaten aus den USA und Großbritannien auf eine Besonderheit in diesem Zusammenhang aufmerksam: „Millennials erschüttern die älteste Regel in der Politik“, titelte das Blatt. Anders als die Kriegsgeneration (1928–1945), die Boomer (1946–1965) oder die Generation X (1965–1980) wählen die Millennials (1980–1998) mit zunehmendem Alter nicht mehr konservativer, insbesondere die Frauen. Zum Teil wählen sie selbst als langjährige Berufstätige sogar noch linker als in ihrer Jugend. In Deutschland dürften entsprechende Daten keine allzu großen Unterschiede aufweisen.

Die Gründe hierfür sind nicht einmal nur ideologischer Natur. Die penetrante LGBTQ- und Diversitätspropaganda in den Bildungseinrichtungen des Staates dürfte auf den einen oder anderen jungen Menschen sogar den gegenteiligen Effekt haben, wenn der- oder diejenige die Indoktrination bewußt mit den eigenen Erlebnissen in der Realität spiegelt. Stattdessen entspringt der Niedergang auch ökonomischen Bedingungen.

Eines der grundlegendsten Merkmale eines bürgerlichen Konservatismus, der bewahren und erhalten will, ist Eigentum. Da aber immer weniger junge Menschen Eigentum besitzen, haben auch immer weniger von ihnen das Bedürfnis, am Status quo festzuhalten. Im Jahr 2000 wohnten laut dem Institut der deutschen Wirtschaft in Deutschland 31 Prozent der Alterskohorte bis 45 in einer eigenen Immobilie. 2021 lag der Wert bei nur noch 15 Prozent aller Haushalte in derselben Altersgruppe. Eine Verbesserung der Lage ist nicht in Sicht. Selbst mit zwei Gehältern schaffen es zumindest in den Großstädten immer weniger junge Familien, an Eigentum zu gelangen. Die Werte von Immobilien erhöhten sich in den vergangenen Jahrzehnten im Verhältnis zum Anstieg des Reallohns um ein Vielfaches. Dazu kommen befristete Arbeitsverträge, die es in dem Maße früher nicht gab. Sie verunmöglichen eine ortsgebundene, feste Familienplanung.

Die Entmaterialisierung des Eigentums und die Ablösung des mittelständischen Unternehmens als vorherrschende Form der wirtschaftlichen Organisation durch die von Managern kontrollierten Massenunternehmen haben also sowohl die wirtschaftliche Machtbasis der bürgerlichen Elite als auch die institutionellen Wurzeln der bürgerlichen Weltanschauung vollständig untergraben. Eine konservative Wende rückt zunehmend in weite Ferne. Die bürgerliche Ideologie ist einem Milieu zugehörig, das keine soziale Anziehungskraft auf Schichten außerhalb ihres eigenen Kosmos besitzt, und kann somit auch keinen Widerstandspol gegen die jetzigen Herrschaftsverhältnisse bilden. Schon der griechische Philosoph Panajotis Kondylis (1943–1988) sprach vom „Paradox“, die „Probleme der Massendemokratie“ mit „bürgerlich-liberalen Idealen und Verfahren, aber ohne Bürgertum und klassischen Liberalismus“ bekämpfen zu wollen.

Diese Rolle als Zuseher der Verhältnisse, ausgeschlossen von jeder Form der politischen Macht, ist geradezu fatal. Denn der klassische Bürgertumsbegriff schließt oligarchische Vorstellungen ja stets mit ein. Das Denken in Hierarchien ist ihm inhärent. Somit ist es auch nicht weiter verwunderlich, daß laut der Studie im Bericht des Ostbeauftragten das „kleinbürgerlich-konservative“ Milieu gemeinsam mit dem „offenen und liberalen“ trotz allem noch immer das staatsgläubigste Milieu bildet. Die Institutionen seien nur vorübergehend in der Hand des politischen Gegners, so der unverrückbare Glaube.

Doch das komplette Akademikermilieu unter 50 Jahren, das aus den Universitäten in die Institutionen nachrückt, ist längst dem konservativen Milieu entrückt. Es ist nach links abgewandert. Für eine Rückgewinnung der Institutionen fehlt schlicht das Personal. In den Journalistenschulen herrscht derselbe universalistisch-hedonistische Geist wie in den elitären Business Schools. Ein älteres Besitzbürgertum wird es zwar noch einige Zeit geben, das Bildungsbürgertum aber hat sich bereits verabschiedet und ist in den Großstädten einem grünen Bio-Bürgertum gewichen, das einen gewissen Wohlfühllifestyle fetischisiert und mittels seiner Funktionen als Staatsbeamte, Journalisten oder Angestellte der „New Economy“ die Öffentlichkeit beherrscht.

Statt nun jedoch den Konflikt zwischen jenen „Anywheres“ und den abgehängten „Somewheres“ intellektuell aufzuarbeiten, herrscht im konservativen Milieu Stillstand. Was Heiner Geißler einst vorbetete, trägt man andächtig in die Zukunft: Hier die bürgerlichen Parteien, dort das linke Lager. Dabei haben sich die Parameter im Massenzeitalter längst verschoben.

Nirgends spiegelt sich dieser gesellschaftliche Wandel besser wider als in den europäischen Wahlergebnissen: In einer Studie aus dem Jahr 2022 wertete ein Team um den Ökonomen Thomas Piketty die Daten von über 300 Wahlen zwischen 1948 und 2020 aus, um die veränderten Wählerpräferenzen in 21 westlichen Demokratien zu untersuchen. Es zeigte sich: Personen mit höherqualifizierter Bildung wechselten über die Jahrzehnte von rechts nach links. Die weniger Gebildeten ohne Universitätsabschlüsse wanderten wiederum von links nach rechts. Ehemals linke Arbeiterparteien entwickelten sich so zu Parteien der akademischen Eliten.

Studien wie diese machen deutlich, wohin der Wind weht: Die politische Rechte wird – mit allen negativen und positiven Konsequenzen – in den populistischen Apfel beißen müssen, will sie der staatlich-privaten Chimäre noch etwas entgegensetzen. Zwar prahlen viele Konservative bereits jetzt mit der Tatsache, daß die „woke“ Linke hart arbeitende Menschen längst verloren hat, aber das ist noch lange kein Garant dafür, daß jene Personen bereitwillig auf der rechten Seite verharren.

1976 beschrieb der US-Soziologe Donald I. Warren einen Typus der Zukunft, der heutzutage um so greifbarer wird: die „Middle American Radicals“ („Radikale Amerikaner aus der Mitte“). Übersetzt in die gegenwärtige westliche Welt: der „Radikale der Mitte“. Dieser Typus, entstanden unter den Bedingungen des Massenzeitalters, meint im wesentlichen einen „weißen Wähler mit mittlerem Einkommen“ (wobei die Tendenz nach unten zeigt), häufig ohne Hochschulabschluß, der sich als Teil einer ausgebeuteten und enteigneten Gruppe betrachtet. Er fühlt sich von einer sinnvollen politischen Teilhabe ausgeschlossen, fühlt sich gedemütigt, lächerlich gemacht. Vor allem aber erkennt er eine kalte Ignoranz von seiten der Medien oder des Bildungswesens für seine Anliegen.

Er lehnt Masseneinwanderung und ausufernde Steuern ab, verlangt „Law & Order“. Doch zugleich hegt er großes Mißtrauen gegenüber den kosmopolitischen Eliten der Großkonzerne und ist offen gegenüber einem „linken“ Sozialstaat. Über seiner Wut schwebt der Vorwurf: Der Staat begünstigt sowohl die Reichen als auch die Armen gleichermaßen. Und tatsächlich: Gerade die „woke“ Ideologie setzt ja bewußt auf eine Allianz zwischen der kapitalistischen, progressiven Elite und der stetig einwandernden Unterschicht. Vermeintlich fortschrittliche Milliardäre unterstützen die Forderungen der Abgehängten, und die Menschen mit mittlerem und geringem Einkommen, die jeden Tag aufstehen und sich zur Arbeit schleppen, müssen die Rechnung bezahlen.

Das postbürgerliche Bewußtsein des zwischen die Mühlen geratenen „Radikalen der Mitte“ entspricht dabei weder den alten bürgerlich-konservativen noch den derzeit herrschenden universalistisch-liberalen Mustern. Insbesondere seine Auffassung vom Staat unterscheidet sich deutlich von der bürgerlich-konservativen Vorstellung eines Minimalstaates und von der linksliberalen Vorstellung des ausufernden Bürokratiestaates, der sich fortlaufend mit dem „Social Engineering“ der Gesellschaft befaßt. Nun aber, da das traditionelle bürgerliche Milieu am Boden liegt, wird deutlich: die „Radikalen der Mitte“ sind im Grunde das einzige noch verbliebene soziale Gerüst, auf dem sich im Westen eine aufständische Anti-Establishment-Bewegung entfalten kann.