© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 11/23 / 10. März 2023

„Kampf gegen die Moderne“
Interview: Was steckt tatsächlich hinter der „Hetzjagd“ auf den „alten weißen Mann“? In seinem neuen Buch enthüllt der Medienwissenschaftler Norbert Bolz einen Generalangriff auf unsere Kultur
Moritz Schwarz

Herr Professor Bolz, warum ist der alte weiße Mann „an allem“ schuld?

Norbert Bolz: Weil er sich hervorragend als Projektionsfläche eignet, der mit seinen drei Attributen alle wesentlichen Bereiche vereint, gegen die heute ein Kulturkampf tobt. In diesem kann man aber nur dann die Überlegenheit erreichen, wenn man ein theoretisches Interesse an den Ideen und Gedanken des Gegners entwickelt. Der alte, weiße Mann sollte sich also für die Vorstellungswelt seiner Ankläger interessieren! Deshalb habe ich mit meinem Buch eine Tiefenbohrung bezüglich der drei Attribute alt, weiß und männlich unternommen, um zu verstehen, wogegen sich die Hetzjagd in Wahrheit richtet.

Und das wäre?

Bolz: „Alt“ steht für Erfahrung, für Tradition und damit auch für Normalität, etwa Urteilskraft im Sinne des gesunden Menschenverstandes. „Weiß“ steht für die europäische Rationalität, die Aufklärung und die Vernunft sowie für die gewaltigen Errungenschaften der Wissenschaft und Technik. „Männlich“ schließlich steht für Mut, Risikobereitschaft und für die Aggressivität, die man benötigt, um sich zu behaupten und gegenüber anderen durchzusetzen.

Es geht also gar nicht um die konkreten alten, weißen Männer, die, so der Vorwurf, die Schaltstellen der Gesellschaft besetzen und dafür sorgen, daß vor allem sie in den Genuß von Privilegien kommen? 

Bolz: Nicht in erster Linie – obwohl die Wokeness verrückt genug ist, wie die Taliban selbst Statuen umzustürzen. Eigentlich aber ist dieses Feindbild vor allem eine Chiffre, die auf eine tiefere Ebene verweist, auf der die eigentliche Auseinandersetzung geführt wird. Und wenn man diese, wie mein Buch es tut, dechiffriert, erkennt man erst den Horizont des gewaltigen kulturellen Bürgerkriegs, in dem wir uns tatsächlich befinden: daß nämlich der Kampf gegen den alten, weißen Mann in Wahrheit ein Kampf gegen die Moderne ist – und folglich dessen Verteidigung die Verteidigung der europäischen Aufklärung. 

Das müssen Sie bitte nochmal spezifizieren. 

Bolz: Heute haben Gefühle die Argumente verdrängt und verletzte Empfindungen zählen mehr als die Wahrheit. Dem entspricht eine Politik, die nicht mehr vernünftig zwischen progressiv und konservativ, sondern archaisch zwischen Gut und Böse unterscheidet. Deshalb herrschen Haß und Wut in der Gesellschaft, was zur Zerstörung der Vernunft führt. Diese Polarisierung findet ihren Ausdruck auch zum einen in der Jagd auf einen Sündenbock, zum anderen in heuchlerischen Bußritualen. Und zu diesem politischen Infantilismus gesellt sich obendrein ein autoritärer Paternalismus: Der Staat soll uns von Anfang bis Ende an die Hand nehmen. Schließlich weicht die Demokratie mehr und mehr der Tyrannei gut organisierter Minderheiten, die leider das Wohlwollen der politisch-medialen Elite genießen. 

Außerhalb Deutschlands haben Kritiker diese Entwicklung als „Kulturmarxismus“ identifiziert. Teilen Sie die These?

Bolz: Wir haben es in der Tat mit einem späten Sieg des Kommunismus zu tun – allerdings nicht à la Marx, Engels und Lenin, sondern à la Antonio Gramsci: ein kommunistischer Denker, der den revolutionären Kampf auf die Ebene der Kultur verschoben und den langen Marsch durch die Institutionen propagiert hat. Heute ist dieser erfolgreich abgeschlossen, denn die woken Kulturrevolutionäre finden sich in allen Spitzen unserer Gesellschaft: In den Erziehungs- und Bildungsinstitutionen und im Kulturbetrieb sind sie besonders stark vertreten. Ebenso in der Sphäre des Glaubens, wo sich die beiden großen Kirchen in Deutschland mittlerweile als der religiöse Arm der woken Bewegung verstehen. Besonders fatal ist aber wohl ihr großer Einfluß in den Medien, die fast völlig auf woker Seite stehen, sowie auf die Politik, die von fast panischer Angst beherrscht wird, durch eine „falsche“ Bemerkung einen woken Shitstorm auszulösen. Ja selbst in unser Rechtssystem sind sie inzwischen vorgedrungen. Natürlich spielen dabei aber auch die Achtundsechziger eine große Rolle, wurden doch viele der gesellschaftspolitischen „Bomben“, die heute hochgehen, damals gebastelt. Allerdings waren im Vergleich zur woken Bewegung die Achtundsechziger belesen, konnten argumentieren und hatten überhaupt Ideen! Während die Wokeness nur „verletzte“ Gefühle, Wutanfälle und apokalyptische Verzweiflung zu bieten hat, ja im Grunde fast nur aus Ressentiments besteht.

Waren die Achtundsechziger denn nicht ebenso voll ungezügelter Affekte, voller Haß auf den Kapitalismus, den Staat, die Gesellschaft, den Bürger und vor allem auf alles Deutsche? 

Bolz: Es gab allerdings unter ihnen auch eine ganze Reihe von Leuten, die, wenn auch ideologisch verirrt, in Theorie sehr gebildet und von echten Ideen geleitet waren. Damit war das Ressentiment, das es, da haben Sie recht, schon damals gab, doch wenigstens sublimiert – ohne daß ich die damaligen Dinge schönreden will. Dagegen ist mit den Woken zu diskutieren so gut wie unmöglich. Schon weil ihre Ressentimentgeladenheit sie Argumente an sich für nichts weiter als eine Teufelei des alten, weißen Mannes halten läßt. So werden Prinzipien der Aufklärung als Machtinstrumente seiner „Herrschaft“ betrachtet und nicht mehr akzeptiert. Das ist vielleicht das wahre Neue an dieser Bewegung, ihr geistfreier und ideenloser, dafür unglaublich naiver Fanatismus.

Was ist etwa mit ihrer Kritischen Rassentheorie, der sogenannten Critical Race Theory, oder der Genderideologie. Das sind doch Theorien.

Bolz: Das sind im Grunde nicht ihre Theorien und Ideen, vielmehr stammen sie aus dem Dekonstruktivismus. Denn die Schlüsselautoren für alles, was die woke Bewegung diskutiert – wenn das überhaupt der Fall ist, meist werden ja nur Parolen gebrüllt –, sind vor allem die französischen Dekonstruktivisten Jacques Derrida und Michel Foucault: also Denker der sechziger Jahre, bereits über ein halbes Jahrhundert alt! Was uns heute seitens der woken Bewegung als Theorie serviert wird, ist nur der x-te Abklatsch vom Abklatsch dieser Philosophen. Da ist nichts mehr von der Subtilität, die einen Derrida noch ausgezeichnet hat. Und wo dieser kunstvoll das geistige Stilett zu führen wußte, kracht heute nur der Holzhammer hernieder. Bestenfalls wird eine Autorin wie Judith Butler gelesen, wobei es selbst dafür bei den meisten der Woken nicht reicht. Auch auf die Gefahr hin, daß ich damit anmaßend klinge: Aber wann immer ich doch einmal Gelegenheit zum Gespräch mit Woken hatte, mußte ich feststellen, daß ich weit besser wußte, was bei den Autoren steht, auf denen ihre Weltsicht baut, als sie selbst. Und ich glaube, daß diese sich im Grabe umdrehen würden, wenn sie wüßten, was heute aufgrund ihrer Ideen da alles getrieben wird. Im übrigen: Daß Judith Butler 2012 mit dem Theodor-W.-Adorno-Preis ausgezeichnet wurde, das zählt für mich zu den größten Witzen der Wissenschaftsgeschichte. Mein Gott, was für eine Verirrung der Urteilskraft!   

Sie sprechen in Ihrem Buch vom „kulturellen Bürgerkrieg“ und stellen ihm ein Kapitel „Lagebild“ voran, wobei Sie klarstellen, daß „der Begriff hier durchaus im militärischen Sinne gebraucht“ wird.

Bolz: Es ist zum Glück kein Krieg, in dem Blut fließt, wohl ist es aber einer, in dem von linker Seite der Gegner nur mit Verachtung bedacht und wenn irgend möglich an den Pranger gestellt und tribunalartig öffentlich abgeurteilt wird. Tatsächlich erleben wir eine manichäische Spaltung der Gesellschaft, wie man sie heute eigentlich kaum noch für möglich gehalten hätte. Daher, meine ich, kann man auch zu Recht von einer „militärischen Lage“ sprechen. Diese gilt es aufmerksam zu studieren, wozu für mich zum Beispiel auch gehört, täglich die „Tagesschau“ zu sehen oder hin und wieder den Spiegel zu lesen – alles im Sinne der Feindbeobachtung. Denn alle Welt spricht zwar vom Gendern, doch kaum jemand hat sich einmal die Mühe gemacht, zu analysieren, was das eigentlich wirklich ist. Zwar gibt es mittlerweile Hunderte von Büchern über Wokeness, Cancel Culture und Co., aber so gut wie alle bleiben an der Oberfläche der Phänomenebene. Ich dagegen wollte die Tiefenebene ausloten. 

Frappierend ist bei der Lektüre, wie unverblümt Sie sich offenbar nicht mehr als neutraler Sozialwissenschaftler verstehen, der Sie doch so lange waren, sondern als parteiischer Kulturkämpfer. 

Bolz: Daß „Der alte weiße Mann“ nicht den gleichen Tonfall hat wie etwa mein Buch über Niklas Luhmann und die Grenzen der Aufklärung ist klar. Ich habe mich immer an Max Weber gehalten und als akademischer Lehrer niemals politisch gepredigt. Denn es gibt nichts Schlimmeres als Professoren, die ihren Katheder mit einer Kanzel verwechseln. Doch mit meiner Pensionierung 2018 war ich frei, nun ein politisches Thema anzupacken – das sicherlich das drängendste unserer Zeit ist! Spricht man aber, außer als Soziologe, über politische Themen, dann ist das Polemische, also das Streitende, im Grunde genommen gar nicht zu vermeiden. Dennoch meine ich, daß „Der alte weiße Mann“ im Vergleich zu den meisten anderen Büchern dieser Art eine vergleichsweise starke analytische Dimension hat. Es stimmt, das Eingangskapitel zur „Lage“ ist eher polemisch geprägt, die drei folgenden Kapitel „Alt“, „Weiß“ und „Männlich“ aber sind vor allem analytisch gehalten. 

Mit Ihrem Buch exponieren Sie sich für deutsche Verhältnisse in ungewöhnlich deutlicher Weise und machen sich damit zur Zielscheibe einer Bewegung, die Sie selbst als tief haßerfüllt, skrupellos und darauf aus beschreiben, ihre Kritiker zu vernichten. Haben Sie keine Angst?   

Bolz: Nein, ich bin schließlich nur ein einfacher Professor, wie viele andere auch. 

Sie heben den Fehdehandschuh auf und haben eine Art Kriegserklärung formuliert.

Bolz: Ach, es würde sich doch gar nicht lohnen, sich über mich aufzuregen. 

Mal schreiben Sie, als sei die letzte Messe gelesen, verweisen auf Ernst Jüngers „Marmorklippen“, als sei nur noch ästhetischer Widerstand möglich. Dann wieder zeigen Sie sich hoffnungsvoll, es könnte doch zu einer politischen Gegenbewegung kommen. Was gilt denn nun? 

Bolz: Das hoffe ich in der Tat, aber das ist natürlich spekulativ. Denn womit ich mich im Buch kaum beschäftige, ist die eigene Seite. An nur wenigen Stellen deute ich an, wie ein moderner Konservativismus vielleicht aussehen könnte – denn das ist nicht das Thema. Natürlich aber ist es nur zu verständlich, daß Sie die Frage nach einem Ausweg stellen. Meine Vermutung jedoch ist, sollte es diesen geben, wird er wohl kaum in unserer Hand, also in der der Konservativen und Liberalen liegen. Tatsächlich sehe ich die einzige Chance darin – außer es sollte zu einer Art wirtschaftlichem Kollaps kommen, was leider nicht ganz ausgeschlossen ist –, daß die Entwicklung dem intelligenten Teil der Linken, den es ja, auch gibt, irgendwann doch unheimlich und zu peinlich wird, und sie sich in einer Art „Coming-out“ erheben, um zu protestieren: „Das alles hat mit uns nichts mehr zu tun! Die Wokeness hat unsere Werte und Gedanken nur usurpiert!“ Das vielleicht könnte noch eine Wende bringen. 






Prof. Dr. Norbert Bolz, der durch seine zahlreichen Bücher und aus Funk und Fernsehen bekannte Medien- und Kommunikationswissenschaftler lehrte bis zu seiner Emeritierung 2018 an der Technischen Universität Berlin. Zuvor war der 1953 in Ludwigshafen geborene Bolz bis 1992 Dozent an der FU Berlin und bis 2002 Professor für Kommunikationstheorie an der Universität Duisburg-Essen. Rüdiger Safranski würdigte ihn als einen „herausragenden philosophischen Zeitdiagnostiker“, dessen Bücher „die Gegenwart reflektieren, zum Widerspruch reizen und Vergnügen bereiten“. Zu seinen bekannten Titeln zählen „Die ungeliebte Freiheit“ (2010), „Die Avantgarde der Angst“ (2020) und „Keine Macht der Moral! Politik jenseits von Gut und Böse“ (2021). Nun ist sein neuer Band erschienen: „Der alte weiße Mann. Sündenbock der Nation“