© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 10/23 / 03. März 2023

Mit schwarzen Lippen langsam erstickend
Am 5. März 1953 starb der sowjetische Diktator Josef Stalin: Unter Putin erfährt der Massenmörder eine ungeahnte Renaissance
Thomas Schäfer

Anfang 1953 war der nunmehr 74 Jahre alte Kreml-Chef Josef Wissarionowitsch Stalin, welcher seit 1922 als Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und seit 1941 zudem noch als Regierungschef der UdSSR fungierte, in keiner guten gesundheitlichen Verfassung. Das verstärkte seine ausgeprägte Paranoia, weswegen er die zumeist jüdischen Mediziner, die ihn und andere hochrangige UdSSR-Politiker behandelten, schließlich des Planes bezichtigte, ihre Patienten ermorden zu wollen. In Reaktion auf diese angebliche „Ärzteverschwörung“ (JF 3/23) kamen auch Stalins Leibärzte Miron Wowsi und Wladimir Winogradow in Haft, was sich rächen sollte, als der „Woschd“ (Führer) am frühen Morgen des 1. März 1953 im Anschluß an das übliche allnächtliche Trinkgelage mit seinen engsten Vertrauten Lawrenti Beria, Georgi Malenkow, Nikolai Bulganin und Nikita Chruschtschow einen Schlaganfall erlitt: Nachdem die Bediensteten es zunächst nicht gewagt hatten, das Zimmer des Diktators in dessen Datscha in Kunzewo zu betreten, mußten am 2. März erst einmal umständlich ein paar andere Mediziner zur Untersuchung Stalins herangeholt werden. Selbige stellten dann die „äußerst ernste“ Diagnose „Arterielle Gehirnblutung im halblinken Areal“.

Diodochenkämpfe um Stalins Nachfolge begannen umgehend

Daraufhin begann der Diadochenkampf um die Nachfolge des Todkranken, welcher mit der Etablierung einer kollektiven Führung endete: Beria sollte Geheimdienstchef bleiben und zugleich das Innenministerium leiten, Malenkow zum neuen Ministerpräsidenten und Parteichef avancieren, Bulganin zum zweiten Mal Verteidigungsminister werden und Chruschtschow weiter als Sekretär des Zentralkomitees der KPdSU fungieren. Darüber hinaus ging das Amt des Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjets, also des formellen UdSSR-Staatsoberhauptes, an Kliment Woroschilow. Stalin, der möglicherweise noch realisierte, was da ablief, starb am 5. März 1953 um 21.50 Uhr. Seiner Tochter Swetlana zufolge liefen die Lippen des Diktators plötzlich schwarz an, während er langsam erstickte und einen letzten grimmigen Blick auf die Anwesenden richtete.

Wenig später meldete der Moskauer Rundfunk zu getragener Trauermusik den Tod des „Unsterblichen“, was einen ungeheuren Schock unter der Bevölkerung auslöste. Hierzu schrieb der Propagandist Ilja Ehrenburg: „Wir hatten völlig vergessen, daß Stalin ein Mensch war. Er hatte sich in einen allmächtigen und geheimnisvollen Gott verwandelt. Und nun war dieser Gott an Gehirnblutungen gestorben. Das erschien uns unwahrscheinlich.“ Dabei lief der Personenkult um den Sowjet-Herrscher nach dessen Tod zunächst nahtlos weiter: Im Anschluß an die bombastische Beisetzungszeremonie auf dem Roten Platz präparierten Spezialisten den Leichnam Stalins, der dann bis 1961 in einem Glassarg an der Seite Lenins in dem Mausoleum vor den Mauern des Kreml ruhte, bis Chruschtschow ihn von dort entfernen ließ.

Eine der ersten unmittelbaren Reaktionen auf die Nachricht vom Ableben Stalins waren mehrere große Aufstände in den zahllosen Einrichtungen der Glawnoje uprawlenije isprawitelno-trudowych lagerej i kolonij (Hauptverwaltung der Besserungsarbeitslager und -kolonien beziehungsweise GULag). Gleichzeitig wurde bereits am 27. März eine Amnestie verkündet, durch welche die knappe Hälfte der 2,5 Millionen GULag-Häftlinge freikam, was freilich zu chaotischen Zuständen im Lande führte. Hingegen änderte sich zunächst nichts für die nach wie vor in sowjetischer Kriegsgefangenschaft oder Zivilinternierung befindlichen 30.000 Deutschen. Deren Rückführung in die Heimat erfolgte erst 1955 nach zähen Verhandlungen zwischen Bonn und Moskau.

Zu diesem Zeitpunkt war Beria bereits tot. Da er den anderen Politbüromitgliedern bald zu übermächtig erschien und der nächste Diktator zu werden drohte, wurde er im Juni 1953 aufgrund diverser Vorwürfe verhaftet und im Dezember des selben Jahres erschossen. Dennoch aber gab es bald wieder einen starken Mann im Kreml, nämlich Chruschtschow, der am 7. September 1953 zum neuen Ersten Sekretär des ZK der Kommunistischen Partei der Sowjetunion aufstieg. 

In dieser Eigenschaft leitete der Sieger im innerparteilichen Machtkampf auf dem XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 mit seiner Rede „Über den Personenkult und seine Folgen“ den Prozeß der Entstalinisierung ein. Dabei hatte er freilich selbst in den 1930er Jahren als Chef des Moskauer Gebietsparteikomitees zu den unmittelbaren Handlangern des stalinistischen Terrorregimes gehört. Dem folgte nach dem XXII. Parteitag vom Oktober 1961 die nächste Abrechnung mit Stalin: Nun wurde auch der Name des Diktators aus der Öffentlichkeit getilgt – was beispielsweise zur Umbenennung zahlreicher Straßen und Ortschaften führte.

Der Entstalinisierung während der Phase des sogenannten „Tauwetters“ schloß sich dann ab 1964 mit dem Machtantritt von Chruschtschows Nachfolger Leonid Breschnew die Ära des Neostalinismus an, welche faktisch erst mit den Reformen von Michail Gorbatschow endete. Unter Wladimir Putin etabliert sich Stalin in Rußland wiederum mehr und mehr als großer Staatsmann. Der Phantomschmerz anläßlich des Zerfalls der Weltmacht Sowjetunion und die Mobilisierung nationaler Gefühle unter der Ägide von Putin führten dazu, daß mittlerweile siebzig Prozent der Russen die Rolle Stalins als Führer der Sowjetunion eher positiv als negativ bewerten. Deswegen wurden seit 2013 auch mindestens siebzig neue Stalin-Denkmäler errichtet. Außerdem steht die ernstgemeinte Forderung von Petersburger Altkommunisten an die Russisch-Orthodoxe Kirche im Raum, Stalin heiligzusprechen.