Am Anfang war das Ende der Geschichte. Francis Fukuyamas überstrapazierter Buchtitel bleibt das treffendste Schlagwort für die Zeitenwende um 1990, dem Ende des Kalten Krieges. Bezeichnenderweise waren es die Europäer, die den Autor wörtlich nahmen. Die US-Amerikaner verstanden Fukuyamas Metapher immer schon als überhöhte Beschreibung ihres Triumphs. Und den galt (und gilt) es zu verteidigen.
Die Mittelost-Politik der Präsidenten Bush senior und junior, Bill Clintons 1994 getroffene Entscheidung zur Nato-Osterweiterung, Barack Obamas „Pivot to Asia“, Joe Bidens Umgang mit dem Ukrainekrieg – bis heute findet sich kein Anhaltspunkt für Endzeitstimmung in den Korridoren der westlichen Supermacht.
Anders in Europa. Das Ende des Kalten Krieges war eine Erlösung für den ermüdeten Kontinent. Im Mittelalter hatten sich Adel, Fürsten und Könige bekämpft, später die Nationen, die Konfessionen, schließlich die Imperien und sozialen Klassen. Ab dem 19. Jahrhundert beharkten sich obendrein zwei ideologische Antagonisten: das liberal-bürgerliche Beharrungsmodell und das sozialistisch-proletarische Zukunftsmodell. Es war zuviel des Guten. Nach dem Zenit der europäischen Machtstellung um 1900 brach ein doppelter Weltenbrand über den Kontinent herein. Das Erbe seiner Herrschaft, auch seiner Ideologien, ging an zwei periphere Mächte im europäischen Orbit: USA und Sowjetunion.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wandelte sich dann der Westen Europas zum Labor einer postnationalen, ja postpolitischen Fortschrittswelt, ermöglicht durch den Schutzschild der USA und das atomare Patt der Supermächte. Ganz offensichtlich galt das besonders für Deutschland. In einer zunehmend entpolitisierten und wohlstandssaturierten geistigen Landschaft blühten Werte und Moral, überhaupt das Gute als Ziel gemeinschaftlichen Daseins.
Das alles waren keine neuen Themen. Ihre Pflege war schon Teil der deutschen Antwort auf die französische Revolution gewesen: Idealismus und Romantik. Doch im 19. Jahrhundert wirkten niederdrückende materielle und politische Interessen. Von Saturiertheit konnte keine Rede sein, und Industrialisierung und Imperialismus waren noch im Aufschwung.
Sollte es nach 1990, gewissermaßen im zweiten Anlauf, gelingen? Nachdem das sozialistische Lager seine Utopie einer klassenlosen Gesellschaft gegen die Wand gefahren hatte, strahlte einzig der westlich-liberale Gegenentwurf. Die europäische Einigung war fortgeschritten, die regelbasierte internationale Ordnung bestand ihre Bewährungsproben, die einstige Kolonialmacht Europa war auf dem Weg zum Vorbildkontinent. Die universalen Menschenrechte und das moderne Völkerrecht, kodifiziert in zahllosen Dokumenten – in Kern und Ursprung europäische Errungenschaften.
Über ein Jahrhundert lag die Deutungshoheit über den historischen Fortschritt bei der marxistischen Linken und ihrer Dialektik. Um 1990, in einem gänzlich unerwarteten Schwenk, begann sich das zu ändern. Die Vorgeschichte war facettenreich. Mit jeder neuen Nachkriegsgeneration hatte das Bürgertum, das bis in die 1950er die Stütze des National- und Liberalkonservatismus gewesen war, an Repräsentanz verloren. Gleichzeitig und erst recht im Gefolge der sozialliberalen Bonner Koalition ab 1969 wurde der Linksliberalismus zur zeitgemäßen Ausprägung liberalen Denkens in Deutschland.
Um 1985 begleiteten dann Perestroika und Glasnost den Untergang der linken Orthodoxie. Keine fünf Jahre später war alles, was sich von Marx, Engels oder Lenin her legitimierte, außerhalb winziger Splittergruppen nachhaltig desavouiert.
Was aber geschah mit dem Fortschritt, wer wurden seine neuen Hüter? Schließlich muß eine Welt, in der Wissenschaft und Technik täglich besser und leistungsfähiger werden, auch politisch-gesellschaftlich voranschreiten. So sieht es der europäische Mensch seit bald drei Jahrhunderten. Der faustische Charakter, der unsere Zivilisation nach wie vor beherrscht, kann nicht anders.
In der Tat hat der Fortschritt in den zurückliegenden dreißig Jahren die Pferde gewechselt. Mit dem Niedergang der marxistischen Linken wurden ihre historischen Gesetze Makulatur. Zugleich war 1990 kein Triumph des Konservatismus. In den westlichen Industriestaaten brachte das Ende des Kalten Krieges einen einzigen Sieger hervor: das Individuum, seine Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung. Allerdings in zweierlei Gestalt: die eine neoliberal befreit von allen (auch konservativen!) Zwängen, die andere linksliberal eingehegt durch die Normen der Moral, des Rechts und des aufgeklärten Wissens.
Auf diesen drei Säulen ruht seither das „fortschrittliche“ Bewußtsein. Die Gebote der Moral gebären Phänomene wie die Politische Korrektheit (Achtsamkeit, Diskriminationsverbot, Cancel-Kultur); die Achtung vor dem Recht zwingt zur Einhaltung der legitimen Ordnung (vgl. die westlichen Reaktionen auf den russischen Angriffskrieg); das aufgeklärte Wissen verehrt die Expertenautorität („follow the science“).
Inbegriff dieser „fortschrittlichen“, staats- und gesellschaftstragenden Haltung ist der linksliberale Zeitgeist in allen Farben von Schwarz über Grün bis Rot. Wobei das Wort linksliberal ein Oxymoron ist, ein Widerspruch in sich. Der (linke) Glaube an einen Staat, der alles zum Besseren wendet, und das (liberale) Streben nach individueller Freiheit müssen irgendwann kollidieren – es sei denn um den Preis einer freiwilligen Selbstkontrolle, die an das deutsch-idealistische (und sehr protestantische) Verständnis von Freiheit als „Verantwortung, das zu tun, was man tun muß“ (Dietrich Bonhoeffer) erinnert. Damit dürfte auch deutlich werden, warum die Politische Korrektheit in Deutschland auf fruchtbareren Boden fällt als andernorts in Europa.
Die fast schon perverse Bereitschaft zur Selbstkontrolle als Ausdruck individueller Autonomie bewirkt den unerträglichen Konformismus im massenindividualistischen Establishment. Theoretisch wird Vielfalt verherrlicht, praktisch verdrängt. Wer Tiere tötet und verzehrt, Verbrenner-Boliden über die Autobahn jagt oder an der Heteronormativität festhält, wird als therapiebedürftig ausgegrenzt. Als Kompensation für den Verzicht auf eigene Freiheit vergöttert das Juste milieu die Freiheit unbedeutender Minderheiten, etwa der Trans-Menschen. In deren Selbstverwirklichung (und seiner Selbsterniedrigung) feiert der westliche Fortschrittsmensch, gedrückt von der Scham über zerronnene Macht, Kolonien und Unterdrückung, seine moralische Überhöhung.
Dabei geht es lediglich darum, die Trauben sauer zu machen, die dem alternden Fuchs zu hoch hängen. Er spürt, daß er den Rivalen politisch nicht standhalten kann. Politik ist schließlich Auseinandersetzung, Konflikt; am Ende geht es darum, wer die Macht und wer „das Sagen“ hat. Und an Rivalen herrscht kein Mangel: rechte Populisten in den eigenen Reihen, chauvinistische Russen und andere Osteuropäer, Chinesen, die sowieso anders ticken, islamistische Migranten.
Die Antwort des Fortschrittsmenschen ist ihrem Wesen nach unpolitisch. Das ist durchaus gewollt. Wenn der alt gewordene Fuchs den politischen Kampf fürchten muß – wäre es da nicht wunderbar, politische Macht würde sich unmittelbar aus moralischer, rechtlicher und wissenschaftlicher Erkenntnis heraus legitimieren? Keine Revierkämpfe mehr, stattdessen Wahrheit und Vernunft als Richter?
Schon die Begeisterung, mit der die Botschaft vom „Ende der Geschichte“ aufgenommen wurde, weist in diese Richtung. Analoges gilt für Fragen wie „Warum gibt es im 21. Jahrhundert immer noch Krieg?“ Der Konservative antwortet mit der Gegenfrage: „Warum nicht?“ Doch die Ursprungsfrage kennzeichnet eine Erwartungshaltung. Nach so viel Fortschritt (so wird unterstellt) sollte die Menschheit in der Lage sein, das Politische endlich der Herrschaft der Moral, des Rechts und der Wissenschaft zu unterwerfen.
Doch die Hoffnung auf Überwindung der Politik bleibt unerfüllt. Sie baut auf ein allzu hohes Maß an Saturiertheit und Integration: weitgehend befriedigte Interessen, vollendete Triebkontrolle, kulturelle und intellektuelle Homogenität – Merkmale eines nach 1970 in Westdeutschland herangewachsenen Milieus, Kinder und Enkel der Achtundsechziger. Die haben auch keine Probleme, sich über Identitätspolitik und Wokeness zu verständigen. Doch die eigentliche Frage hat schon Napoleons Mutter formuliert: Pourvu que cela dure. Wie lange wird das halten? Die Mittelschicht schrumpft, die Zuwandereranteile wachsen, eine gründliche Re-Politisierung der Gesellschaft ist nur eine Frage der Zeit.
Längst schält sich ein neuer Antagonismus heraus, nicht mehr zwischen Links und Rechts, nicht zwischen Kapitalismus und Kommunismus, sondern unter dem Dach der Freiheit: zwischen subversiv-libertär und zeitgeistgemäß linksliberal. Mit Gelbwesten und Wutbürgern ist das US-Phänomen der Tea Party nach Europa geschwappt. Durchdrungen von abgrundtiefem Mißtrauen gegenüber dem Staat und seinen Institutionen, gegenüber der veröffentlichten Meinung und den politkorrekten Dogmen lehnt eine wachsende Zahl sich gegen den Zeitgeist auf. Wer progressiv ist und wer rückständig, entscheidet sich entlang dieser Front. Dabei spielen weder die alte Linke noch der alte Konservatismus eine Rolle; beide sind wie ausgelöscht. Das erklärt auch die Präferenz sowohl der Partei Die Linke als auch der CDU/CSU für die je nach Gusto lifestylelinke oder lifestylebürgerliche Mitte.
In der Folge wird das fortschrittliche Lager – all jene, die sich gegenseitig als demokratisch akzeptieren – zum Hort des Schmiegsamen. Auswechselbare Politiker geben in auswechselbaren Worten auswechselbare Meinungen zu Protokoll. Die Widerspenstigen hingegen, die Querköpfe und Querdenker, die in keine Schublade passen, sind oft genug stolz auf ihre Rückständigkeit. Sie wissen sich vereint in der Verachtung der Doppelmoral und der Expertenhybris, der Weintrinker im wasserpredigenden öffentlich-rechtlichen Rundfunk und der akademischen Talkshow-Besserwisser.
Das Ganze besitzt auch eine globale Dimension. Mit nicht einmal mehr 15 Prozent der Weltbevölkerung schwindet die geistige und kulturelle Autorität der westlichen Länder von Kanada bis Australien. Wenn Rußland unter Wladimir Putin seinen Willen und seine Interessen höher ansetzt als Vernunft, Moral und Recht, fordert er damit die regelbasierte internationale Ordnung heraus. Der Ausgang des Ukraine-Krieges wird ein Indikator sein, inwieweit der Westen seine Vorstellungen von Recht und Ordnung durchsetzen kann. Ähnliches gilt für die globale Auseinandersetzung um das Zeitgeist-Projekt „Klimarettung“. Die Europäer werden sich daran die Zähne ausbeißen – und scheitern. Dem Fortschritt und den Fortschrittlichen stehen Enttäuschungen ins Haus.
Dr. Thomas Fasbender, Jahrgang 1957, lebte ein Vierteljahrhundert in Rußland. Als Kenner des Landes veröffentlichte er 2014 den Titel „Freiheit statt Demokratie. Rußlands Weg und die Illusionen des Westens“ sowie ganz aktuell „Wladimir Putin. Eine politische Biographie“ (Landt Manuscriptum)