© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 10/23 / 03. März 2023

Lucy heißt jetzt Luzifer
Kino II: Der Kinderfilm „Lucy ist jetzt Gangster“ ist Volkspädagogik für die freie deutsche Jugend von heute
Dietmar Mehrens

Tristan (Brooklyn Liebig) ist ein richtiger Rabauke in diesem heiteren Kinderfilm, ein frecher, ständig Kaugummi kauender Schnösel mit schräger Mütze auf dem Kopf, dem Schalk im Nacken und stets einer Lüge auf der Zunge. Da trifft es sich doch prima, daß seine Klassenkameradin Lucy Pagano (gespielt im Wechsel von den Zwillingen Valerie und Violetta Arnemann) entschieden hat, sich von dem positiven Bild, das alle Welt von ihr hat, zu emanzipieren. Eigentlich ist Lucy nämlich die Verkörperung des universellen Altruismus (von notorischen Nörglern auch „Gutmenschentum“ genannt). Wenn die Zehnjährige einen Fünfzig-Euro-Schein findet, macht sie einen öffentlichen Aushang, um den Besitzer ausfindig zu machen.

Es kommt daher etwas überraschend, wenn die allseits beliebte Grundschülerin zu Beginn des Films verkündet: „Hi, ich bin Lucy, und irgendwann im Lauf dieser Geschichte werde ich eine Bank überfallen!“ 

Grund für Lucys Abfall vom Altruismus ist ein Mißgeschick in der Familie: Papa Pagano, Eisverkäufer von Beruf, hat seine Eismaschine de luxe ruiniert – 30.000 Euro Schaden. Die Bank verweigert den Paganos einen Kredit für die Anschaffung einer neuen. Aber keine Sorge: nicht aus Rassismus, nur aus Kapitalismus. Weil nämlich der Kredit für die Eisdiele noch nicht abbezahlt ist. Es droht der Ruin. Lucy sieht nur einen Ausweg: Klassenrabauke Tristan muß sie zur Bankräuberin trainieren. Im Gegenzug trainiert sie ihn in Deutsch und Mathe. Aber kann es gelingen, die edelmütige Lucy in eine böse Luzifer umzumodeln? Erster Härtetest: ein Schokoriegelklau im Supermarkt ...

Wer jetzt mit einer respektlosen Anarcho-Komödie rechnet, bei der Kinder so verrückte Sachen machen wie „Die kleinen Strolche“ von Hal Roach oder vor einem halben Jahrhundert die verrückten Muppets in der nach ihnen benannten Show, der kennt die Filmbranche des Regenbogen-Zeitalters aber schlecht. Selbstverständlich dient Lucys vorübergehende Verirrung lediglich als Folie für eine volkspädagogisch wirksame Moral. Lucy selbst darf sie am Ende verkünden: „Gangster sein ist ganz schön anstrengend.“ Denn es mache einsam. Ist es nicht viel schöner, durch ungezügelten Altruismus viele Freunde zu gewinnen als durch das Gegenteil alle zu verlieren? Am Ende ist es also nicht Lucy, die von Tristan korrumpiert wird, sondern Tristan, der sein gutes Herz entdeckt ...

Trotz des klapperigen Handlungsgerüsts – ein Banküberfall macht noch keine Geschichte – ist „Lucy ist jetzt Gangster“ dank der zauberhaften Hauptdarstellerin ein charmanter Kinderfilm geworden. Auch wenn es zuweilen auffallend der Charme von FDJ-Propagandafilmen aus den goldenen Zeiten des Sozialismus deutscher Prägung ist, der hier fröhlich seine Wiederauferstehung feiert.