© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 10/23 / 03. März 2023

Große grüne Krokodile
Kino I: Der sechsfach Oscar-nominierte Film „Tár“ von Todd Field ist ein hochkomplexes Psychogramm
Dietmar Mehrens

Irgendwann in diesem Film wird Lydia Tár in Ostasien auf einem Boot über einen Fluß schippern und ihre Reiseführer fragen, ob sie nicht ins Wasser springen könne. Das gehe nicht, lautet die Antwort, hier gebe es Krokodile. Große grüne Krokodile, die uns zu fressen drohen, sobald wir uns etwas Freiraum wünschen; schon allein wegen dieser Metapher muß man „Tár“ lieben. Schön ist hier nur die Kunst, die Musik. Die Welt, in der sie spielt, ist häßlich, feindlich und kalt. Todd Field, der in seinen Filmen gern in Abgründe schaut, in die keiner fallen möchte, porträtiert in „Tár“ eine Gewinnerin des Globalisierungszeitalters, die, als sie dessen Gunst verliert, zum mustergültigen Opfer seiner Grausamkeit wird.

Kosmopolitin auf dem Höhepunkt der Karriereleiter

Lydia Tár, die von Cate Blanchett meisterhaft verkörperte Hauptfigur, lebt das perfekt durchorganisierte Leben einer modernen Kosmopolitin. In einer irritierend langen Anfangssequenz charakterisiert der Autor und Regisseur die Stardirigentin, die keinen Wert auf die weibliche Form legt und sich schmerzfrei als „Maestro“ anreden läßt, durch ein Talkshow-Gespräch für das amerikanische Publikum: Tár ist selbstbewußt, eloquent, ohne geschwätzig zu sein, und ruht ganz in sich. Sie hat auch keinen Grund zur Klage. Denn die Absolventin der Universität Wien, Schützling von Leonard Bernstein und aktuell Chefdirigentin der Berliner Philharmoniker, befindet sich auf dem Höhepunkt einer in den Olymp der Unsterblichen hineinragenden Karriereleiter. Die Emmy-, Grammy-, Tony- und Oscar-prämierte Komponistin, Orchesterleiterin und Gastdozentin einer New Yorker Universität düst ohne Klimascham von Termin zu Termin. Eine Live-Einspielung von Gustav Mahlers 5. Symphonie für eine CD-Produktion ist das aktuelle Großereignis, um das alles kreist. Frisur und Kostüm sitzen, auch wenn es mal stressig wird, und das wird es oft.

Mit Sharon (Nina Hoss), ihrer Konzertmeisterin, führt sie in Berlin eine homoerotische Beziehung. Auch eine adoptierte Tochter namens Petra haben die beiden. Doch in allen privaten Begegnungen, an denen das mit der Dresdner Philharmonie gedrehte Musikdrama den Zuschauer teilhaben läßt, wirkt die Protagonistin seltsam kühl und leidenschaftslos, als bliebe bei so viel beruflichem Erfolg für andere Ambitionen keine Energie. Die Menschen in ihrem Leben werden gehegt und gepflegt wie Bildbände im Regal. Daß sie Kratzer bekommen, duldet sie nicht: Als Petra in der Schule gemobbt wird, stellt sich die Orchesterchefin als „Vater“ des Mädchens vor und regelt das Problem mit der kalten Konsequenz eines Vito Corleone, des „Paten“ in Francis Ford Coppolas gleichnamigem Mafia-Epos (JF 10/22). Auf die gleiche Weise hat sie offenbar in der Vergangenheit die Beziehung zu einer lesbischen Gespielin beendet. Als sie vom Selbstmord der Frau hört, ist das für die Philharmonikerin eher ein häßlicher Mißklang als ein emotionaler Tiefschlag. 

Ein düster-amorphes Talkshow-Publikum, spröde Großstadtfassaden, eine molochartige Baustelle, ein finsterer Keller mit bissigem Hund, ein dunkler Park, in dem eine Frauenstimme schreit, eine Nachbarwohnung, in der man den Mief eines prekären Pflegefalls förmlich zu riechen meint: häßlich ist auch die Welt, in der Lydia Tár sich jenseits der Kunst bewegt – ins Bild gesetzt von dem gebürtigen Braunschweiger Florian Hoffmeister, dessen Kameraarbeit für den Oscar nominiert ist. Auch ein Ausflug in die Berliner Autonomenszene samt garstiger Graffiti ist dabei. Eine Welt entsteht so vor den Augen des Publikums, in der niemand sich mehr so richtig zu Hause fühlen kann, eine Welt der Unbehausten, der Entwurzelten, der Kosmopoliten dieser Epoche – erfolgreich zwar, weil sie diese Welt ihren Regeln unterwerfen können, doch stets in der Gefahr, am Ende daran zu zerbrechen, daß es in diesem künstlichen Kosmos die natürliche Wärme des heimischen Herdfeuers nicht mehr gibt, sondern nur noch Arrangements und erfolgreiche Bilanzen.

Die an den Fall Kathleen Stock erinnernde Haß-Kampagne, die schließlich gegen die Stardirigentin losgetreten wird, ist zwar in Fields Drehbuch von Anfang an angelegt, doch der Regisseur ist klug genug, sie als Subthema dezent im Hintergrund zu belassen. In der Summe feuert er indes so viele – oft metaphorisch verkleidete – Breitseiten gegen das postmoderne Jakobinertum, namentlich in seinen jüngsten monströsen Ausprägungen, daß, was auf den ersten Blick wie das minutiöse Porträt einer Ausnahmekünstlerin wirkt, sich mehr und mehr als Psychogramm des heiligen grünen Transformationszeitalters entpuppt.

Kontroverse mit einem linksextremen Studenten

Zu Beginn des Films kommt es während einer Vorlesung in New York zu einer Kontroverse zwischen Tár und dem linksextremen Studenten Max (Zethphan Smith-Gneist), der es ablehnt, Bach zu spielen, weil er die Zahl der von ihm gezeugten Kinder für einen Beweis der Unterdrückermentalität alter weißer Patriarchen hält. Die Lektion, die die Musikdozentin ihm daraufhin erteilt, quittiert Max mit einem Beleidigungswort und dampft haßerfüllt ab. Der Vorfall ist ein erster Riß in der makellosen Fassade der Meisterin.

In einem anderen Kontext kommt die Entnazifizierung Wilhelm Furtwänglers zur Sprache: Die bekennende Liberale sieht darin eine Überreaktion. „In diesen Zeiten beschuldigt werden ist wie schuldig sein“, wird sie schließlich, mit Blick auf ihren eigenen Fall, klagen. Der erlaucht-mondäne Kosmos, in dem sie sich zuvor so souverän bewegte, hat sich zu diesem Zeitpunkt längst gegen sie gewendet.

Als sie der Radikalfeministin Olga (Sophie Kauer, auch im wahren Leben eine begnadete Cellistin), der neuesten Errungenschaft ihres Orchesters, nachsteigt, gerät sie in Teufels Küche und handelt sich beträchtliche Blessuren ein. Ein Schlüssel zum Verständnis ist die wuchtige Schlußszene des Films, die vor dem folgenschweren Betreten einer neuen Welt warnt.

Daß Todd Field ein Regisseur ist, der gern da hingeht, wo es wehtut, bewies er bereits mit dem Familiendrama „In the Bedroom“ (2001), in dem archaische Rache-Reflexe die Fassade kultivierter Bürgerlichkeit einstürzen lassen. In „Little Children“ (2006) ging es um Porno-Sucht und sexuellen Mißbrauch. Beide Filme wurden wie jetzt „Tár“ in mehreren Sparten für Oscars nominiert. Gewonnen haben jeweils andere. Bei der diesjährigen Preisverleihung am 12. März dürfte der Film wegen seiner Sperrigkeit, Komplexität und teilweise schon provozierend gegen den Strich gebürsteten Machart zwar erneut nicht zu den Favoriten gehören; in Anbetracht seiner gesellschaftspolitischen Brisanz hat „Tár“ aber jede nur denkbare Ehrung verdient. 

Kinostart ist am 2. März 2023