© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 10/23 / 03. März 2023

Thalers Streifzüge
Thorsten Thaler

Wolfgang Amadeus Mozart war, ähnlich seinem „Don Giovanni“, ein rechter Schwerenöter. Obschon mit 26 Jahren verheiratet, ging er amourösen Gelegenheiten nicht aus dem Weg. Mit etlichen Sängerinnen soll er in Techtelmechtel verstrickt gewesen sein, darunter womöglich auch mit der englischen Sopranistin Nancy Storace. Sie sang unter seiner Leitung in Wien die Susanna in der Uraufführung von „Le nozze di Figaro“ (Die Hochzeit des Figaro). Im Jahr darauf kehrte sie jedoch nach England zurück, und Mozart komponierte eigens zu ihrem Abschied die Konzertarie „Ch’io mi scordi di te ... Non temer, amato bene“ für Sopran, Klavier und Orchester. In seinem Werkverzeichnis notierte er: „für Mad.selle Storace und mich“. In dem Text heißt es unter anderem: „Fürchte dich nicht, meine Geliebte/ mein Herz wird immer für dich sein./ Ich kann so viel Schmerz nicht länger ertragen,/ meine Seele verläßt mich.“ Heute gehört die Arie zu den Paradestücken von Cecilia Bartoli. Kaum jemand vermag sie mit solcher Hingabe zu singen wie die italienische Mezzosopranistin. Davon überzeugte sie vergangenen Sonntag auch die Zuhörerschaft in der Berliner Philharmonie, begleitet am Klavier von Daniel Barenboim, der zugleich auch seine Staatskapelle dirigierte. Die Konzertmatinee war dem Anfang Februar verstorbenen Regisseur und ehemaligen Intendanten der Staatsoper Jürgen Flimm gewidmet. Als zweites Mozart-Werk an diesem Vormittag präsentierte Cecilia Bartoli die Arie des Kastraten Sesto „Parto, ma tu ben mio“ aus der Oper „La Clemenza di Tito“. Im Dialog mit der Solo-Klarinette von Matthias Glander deutete sie jede Gefühlsregung seelentief bis an den Rand der Tränen in den Augenwinkeln aus. Als Zugabe folgte – wie schon bei ihrem bislang letzten Konzertprogramm „Farinelli und seine Epoche“ (Streifzüge vom 29. November 2019) – Händels berühmte Arie „Lascia, ch’io pianga“ in der frühen Fassung mit der Textzeile „Laß die Dornen, pflücke die Rose“. Herzergreifend! Danach hielt es das Publikum nicht mehr auf den Sitzen, es verabschiedete die Bartoli mit stehenden Ovationen.

Daniel Barenboim erwies sich jederzeit als Taktgeber des Geschehens.

Apropos Daniel Barenboim: Der 80jährige Maestro zeigte sich nach seiner langwierigen neurologischen Erkrankung und dem Rücktritt als Generalmusikdirektor der Staatsoper zwar noch etwas bedächtig auf den Beinen (wie schon beim Neujahrskonzert in der Philharmonie mit Beethovens 9. Symphonie), aber jederzeit als Taktgeber des Geschehens. Das Publikum bedachte ihn mit einem Applaus der Erleichterung. Eingangs hielt er eine kurze Trauerrede auf Jürgen Flimm, für die Mozart-Stücke setzte sich Barenboim an den Flügel und ans Cembalo, von dort aus leitete er auch virtuos mit minimalistischer Gestik das große Orchester. Nach der Pause dirigierte er auswendig die 1830 uraufgeführte „Symphonie fantastique“ des französischen Komponisten Hector Berlioz, und zwar in einer Weise, „wie man es noch nicht gehört zu haben glaubt“ (Süddeutsche Zeitung). Demnächst wird Barenboim wieder vor allem als Pianist mit den letzten drei Beethoven-Sonaten unterwegs sein, in Monte Carlo, Zürich, Basel, Berlin, Wien. Chapeau!