Noch vor einem Jahr meinte EZB-Chefin Christine Lagarde, daß die Zinspolitik keinen Einfluß auf die Energiepreise habe. Diese seien die Haupttreiber der Inflation, sie würden aber am Weltmarkt gebildet, im wesentlichen über Dollar-notierte Futures-Kontrakte auf Öl. Nun wartet jedoch das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Wochenbericht 8/23) mit der Aussage auf, die EZB könne mit einer Leitzinsanhebung die Ölpreise sehr wohl beeinflussen. Da Euroland ein bedeutsamer Ölverbraucher sei, werde die Weltnachfrage spürbar nachgeben, wenn die wirtschaftliche Aktivität im Euroraum sinkt. Mit einem Zinsschritt würden Kredite teurer, so daß weniger investiert, gebaut und auf Pump konsumiert werde. Daher falle die gesamtwirtschaftliche Nachfrage, somit die Nachfrage nach Vorprodukten wie dem Öl.
Der Gegeneffekt, der aus einer Aufwertung des Euro entstehe – in Euro gerechnet wird Öl noch billiger –, belebe die Ölnachfrage nicht gleichermaßen, so daß sich unterm Strich ein niedrigerer Weltölpreis einstelle. Offenbar wurde nicht ins Kalkül gezogen, daß die Anbieter auf einen Preisrückgang beim Öl auch mit einer Drosselung der Förderung antworten könnten. Wenn zudem der Euro aufwertet, werten andere Währungen ab – und diese Länder würden doppelt profitieren: erstens mit einer verbesserten Wettbewerbsfähigkeit ihrer Produkte am Weltmarkt, zweitens über eine auch für sie geltende Entlastung bei den Welt-Energiepreisen. Außerdem: Infolge einer Euroaufwertung würden Euro-Exporte teurer für Nicht-Euro-Länder – und Importgüter würden preiswerter. Die Euro-Preise japanischer und südkoreanischer Autos würden zu Lasten der einheimischen Industrie sinken. Die DIW-Forscher rechnen damit, daß auch die Inflationserwartungen zurückgehen würden. Davon ist erst wenig zu spüren. Verdi unterstreicht die Forderung nach 10,5 Prozent mehr Geld im öffentlichen Dienst durch zahlreiche Warnstreiks. Allerdings kann dieses Plus auch dann erreicht werden, wenn in zwei aufeinanderfolgenden Jahren jeweils fünf bis sechs Prozent herausspringen, was – von der Größenordnung her – einer Umfrage des Ifo-Instituts über erwartete Lohnzuwächse entspricht. Wenn sich angesichts des anhaltenden Fachkräftemangels und explodierender Wohnkosten eine Lohn-Preis-Spirale in Gang setzt, ist das eine reale Gefahr für die Geldwertstabilität.
Und: Das DIW modelliert nur unerwartete Zinsanhebungen. Das wären im vorliegenden Kontext überraschend starke Zinsschritte, die die Renditen von Euro-Anleihen unerwartet befeuern würden. Denn je höher der Leitzins, desto höher müßten auch die Zinsen auf festverzinsliche Anleihen der Wirtschaft und der öffentlichen Hand ausfallen, um mithalten zu können. Ob dann aber eine Euro-Aufwertung erfolgt, ist fraglich. Denn auch das Risiko fließt in die Renditeerwartungen der Investoren ein; eine kräftige Zinssteigerung im Euroraum würde das Insolvenzrisiko für Firmen und öffentliche Kreditnehmer – Stichwort Südeuropa – stark erhöhen.
Was nützen höhere Renditen, wenn sie wegen Zahlungsunfähigkeit des Schuldners nicht realisiert werden können? Daher ist die Option, die Inflation mit kräftigen Zinsschritten zu bekämpfen, nicht nur von der Wirkung her ungewiß, sondern auch mit bedeutenden Nebenwirkungen verbunden.
Prof. Dr. Reiner Osbild ist Ökonom und Ordinarius an der Hochschule Emden/Leer.