© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 10/23 / 03. März 2023

Im großen und ganzen in Ordnung
Estland: Kurz vor dem Urnengang sorgt vor allem die rechte Estnische Konservative Volkspartei für Schlagzeilen
Josef Hämmerling

In Estland sollte es nicht zu einem politischen Zweikampf bei den Parlamentswahlen am 5. März 2023 kommen, erklärte der estnische Präsident Alar Karis anläßlich der Einberufung der Wahlen Ende November 2022. „Der Kurs, den Estland eingeschlagen hat, war im großen und ganzen der richtige. Das Wichtigste dabei ist, daß unser demokratischer Staat, unsere Sprache und unsere Kultur im Laufe der Zeit erhalten geblieben sind und daß es den Menschen in Estland gut geht.“ Dies könne Estland nicht aus eigener Kraft erreichen, so der parteilose Präsident weiter. „Wir brauchen Verbündete, die uns verstehen und die wir selbst verstehen. Diese Verbündeten sind die Nato und die Europäische Union. Daß wir Verbündete brauchen, spüren wir angesichts des Krieges, den Rußland gegen die Ukraine führt, derzeit mehr denn je.“

Seit dem 18. Juli 2022 gibt es eine Regierungskoalition der wirtschaftsliberalen Reformpartei von Ministerpräsidentin Kaja Kallas, die 2019 mit knapp 28 Prozent der Stimmen die Parlamentswahl gewonnen hatte. Zusammen mit den Sozialdemokraten (SDE) und der konservativen Partei Isamaa (Vaterland) kam die Koalition auf 55 der 101 Parlamentssitze. Zuvor hatte es eine Zweier-Koalition zwischen der Reformpartei und der Zentrumspartei gegeben, die von Kallas angeführt wurde. Das Ende kam, als bekannt wurde, daß die Zentrumspartei auch nach Beginn des Ukraine-Krieges zuerst noch an dem Kooperationsabkommen mit Wladimir Putins Partei Einiges Rußland festhielt. Die von Jüri Ratas geführte Zentrumspartei steht auf der linken Seite des politischen Spektrums und ist bei der russischsprachigen Minderheit, die etwa ein Viertel der Bevölkerung stellt, beliebt.

Bei den aktuellen  Wahlumfragen gab es einige deutliche Stimmungsänderungen, dennoch lassen die Zahlen auf eine Fortsetzung der Regierungskoalition schließen. Größter Gewinner ist die Estnische Konservative Volkspartei (EKRE). Einer im Auftrag des estnischen öffentlichen Rundfunks (ERR) durchgeführten Umfrage zufolge wollen nun 18,2 Prozent die Rechtspartei wählen, nach nur 16,9 Prozent nur drei Wochen zuvor. Sie liegt damit deutlich über der Zentrumspartei, deren Wahlprognose von 16,4 auf 13,4 Prozent sank. Deutliche Verluste mußte in den vergangenen drei Wochen auch die Reformpartei von 32,8 auf 28,7 Prozent hinnehmen. Zusammen mit den vorhergesagten 10,1 Prozent der SDE und den 8,5 Prozent der Isamaa käme die derzeitige Regierungskoalition allerdings auf 53 der 99 Stimmen in der estnischen Staatsversammlung Riigikogu. 

Kallas profitiert dabei von großen Sympathiewerten in der Bevölkerung. Bei einer Direktwahl würden ihr der Umfrage zufolge 38 Prozent der estnischen Wähler ihre Stimme geben, während der ehemalige Ministerpräsident Jüri Ratas von der Zentrumspartei lediglich 20 Prozent der Stimmen bekommen würde und EKRE-Chef Martin Helme sogar nur zwölf Prozent.

Die immer stärker werdende Beliebtheit der EKRE hängt ERR zufolge mit wachsenden Ängsten der Bevölkerung zusammen, die Regierung schwäche mit ihrer Ukraine-Politik Estland. Zwar unterstützt die EKRE die Ukraine, kritisiert aber vor allem, daß die Kallas-Regierung mit ihren Rüstungslieferungen an die Ukraine das eigene Land „entwaffne“, so Helme. Estland war das erste Land, das die Ukraine nach Kriegsbeginn mit Rüstungslieferungen unterstützt hatte. Mittlerweile machen diese 400 Millionen Euro aus und damit fast 40 Prozent des knapp über eine Milliarde Euro liegenden Verteidigungsetats. „Darüber hinaus haben sie mehr als 100.000 Einwanderer ins Land gelassen, von denen ein Großteil über Rußland kam und keiner sinnvollen Sicherheitsüberprüfung unterzogen wurde; sie haben Tausende ins Land gelassen, die für das russische Militär oder die Geheimdienste arbeiten“, kritisierte Helme weiter.