Der Wind steht günstig für die Kernfusion: „Wir können die Sonne auf die Erde holen!“ glaubt Bettina Stark-Watzinger, seit 2021 Chefin des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF). Mehrere Start-ups stürzen sich auf die theoretisch fast unerschöpfliche Energiequelle und erzählen, wann ihre ersten Kraftwerke Strom produzieren. Es gibt Fördermittel abzugreifen, seitdem die FDP-Politikerin erklärte, Fusionsforschung sei ein Beitrag zur anwendungsorientierten Grundlagenforschung. Das erste Fusionskraftwerk könne bereits in zehn Jahren in Deutschland Strom liefern.
Eine Meldung aus den USA kommt da dem deutschen Fusion Industrial Liaison Office (Filo) unter der Ägide des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) gerade recht. In Kalifornien verkündete das Lawrence Livermore National Laboratory (LLNL) einen Erfolg: 192 starke Laserstrahlen wurden auf erbsengroße Brennstoffkapseln aus fast reinem Kohlenstoff gelenkt. Die wurden in Sekundenbruchteilen extrem komprimiert; dabei wurde es in ihrem Inneren so heiß, daß Wasserstoffkerne verschmelzen konnten. Nur kurz zwar, aber immerhin kam etwas mehr Energie heraus, als für die Kernfusion hineingesteckt wurde.
Es gibt keine Materialien, die die extremen Temperaturen aushalten
Bei diesem „historischen Tag für die Energieversorgung der Zukunft“ (Stark-Watzinger) am 5. Dezember 2022 wurde etwa ein Megajoule Energie freigesetzt – doppelt soviel wie bei einem LLNL-Versuch im Jahr zuvor. Und: Kernfusion ist CO2-frei – wie die Kernkraftwerke auch. In München besuchte die Ampel-Ministerin daher Marvel Fusion, ein 2019 gegründetes Start-up, das eine „revolutionäre Lösung für kohlenstoffreie Energie“ verspricht und bis 2033 sein erstes Fusionskraftwerk bauen will. Eine andere Firma verspricht, mit „Gauss-Giga-Kraftwerken“ auf alten AKW-Standorten Strom aus Fusion zu erzeugen. Deren Initiator Frank Laukien, deutscher Chef der US-Firmengruppe Bruker, sagt bescheiden: „Wir halten zehn Jahre nicht für realistisch, gerade weil die Laserfusion noch weit hintendran ist.“
Es der Sonne nachzutun, das klingt idyllisch und suggeriert, daß es sich nicht um so etwas Böses wie Radioaktivität handelt. Doch die Natur macht es kompliziert: Bei der Kernspaltung wird die Energie freigesetzt, wenn es gelingt, mit einem extrem schnell fliegenden Teilchen einen Atomkern so zu treffen, daß er sich in seine Einzelteile auflöst. Umgekehrt kann man leichte Atomkerne dazu bringen, miteinander zu einem größeren Kern zu verschmelzen und dabei Energie abzugeben. Der größere Kern wäre dann ein Heliumatom. Doch zwei positiv geladene Wasserstoffkerne wollen sich nicht verschmelzen, sie stoßen sich ab – sehr energisch. Dies ist eine der vier Kräfte der Natur.
Die Sonne wendet ein brachiales Mittel an: Irrsinnig hohe Temperaturen und Drücke lassen die Wasserstoffatome so heftig aneinanderprallen, daß sie miteinander verschmelzen und ein Heliumatom bilden. Denn in jedem Gas stoßen Atome aufeinander. Je heißer das Gas ist, desto stärker sind diese atomaren Crashs. Bei Temperaturen um die 10.000 Grad wird es den Atomen so warm, daß sich die Kerne von ihren Elektronen trennen: Ein Plasma entsteht. Aber das ist erst der Anfang. Wird das Gas weiter aufgeheizt, so um die 150 Millionen Grad, dann erst verschmelzen die Atomkerne. Allerdings gibt es keine Materialien, die solche Temperaturen aushalten. Deshalb baut man starke Magnetfelder auf, um die Kerne fernab von den Wänden in der Mitte des Gefäßes zu halten. Gleichzeitig muß die Energie auf das Gas übertragen werden, damit es sich auf jene 150 Millionen Grad aufheizt. Bei dem Versuch in Kalifornien gelang dies durch Laserstrahlen, die die Energie in die Kügelchen lenkten.
Es gibt einen weiteren Trick: die Verwendung von Deuterium oder Tritium anstelle von einfachem Wasserstoff. Diese Wasserstoffisotope haben ein beziehungsweise zwei Neutronen mehr im Kern, bieten also bildlich gesprochen eine größere Angriffsfläche bei atomaren Crashs. Das sind die gröbsten Voraussetzungen, um überhaupt daran denken zu können, Atomkerne so zu erhitzen, daß sie verschmelzen. Das allein ist noch nicht alles, es soll schließlich Energie herauskommen – mehr jedenfalls, als man hineinsteckt. Die muß noch nach außen geführt werden können, um eine Flüssigkeit zu erhitzen und zum Beispiel Turbinen anzutreiben.
Es ist ein brachiales Unterfangen, von 1,5 Millionen Grad auf etwa 400 bis 500 Grad Dampftemperatur zu kommen. Kein Wunder, daß auch nach Jahrzehnten teurer Arbeiten immer noch kein fertiger Fusionsreaktor läuft. Eines der immerwährenden Beispiele ist der International Thermonuclear Experimental Reactor (Iter) in Saint-Paul-lès-Durance (Südfrankreich), der seit 2007 praktisch nur eine Baustelle ist – obwohl die EU, die USA, China, Indien, Rußland, Japan, Südkorea, Großbritannien und die Schweiz mitmachen. Und da soll das erste Marvel-Kraftwerk in zehn Jahren laufen?
Bei der Fusion entstehen keine radioaktiven Abfälle. Allerdings ist Tritium radioaktiv und muß erst aufwendig hergestellt werden. Das Isotop gibt es weltweit nur in geringen Mengen, weil es mit einer Halbwertszeit von zwölf Jahren zerfällt. Die Iter-Betreiber geben an, daß sie pro Gigawatt thermischer Leistung 70 Kilogramm Tritium benötigen. Der Ausweg bei Iter: den Reaktor selbst Tritium erbrüten zu lassen. Theoretisch funktioniert das, Iter soll ausprobieren, ob es auch praktisch funktioniert.
Denn da gibt es noch ein kleines weiteres Problem: Für den „Brütvorgang“ wird ein Lithium-Isotop benötigt. Um Lithium reißen sich allerdings bereits die Hersteller von Batterien für Elektroautos. Geklärt werden muß überdies, wie die Komponenten einer Kernfusionsanlage dem Dauerstrahlenbombardement der Neutronen standhalten. Die sind einem intensiven radioaktiven Beschuß ausgesetzt, entsprechende Materialien müssen noch entwickelt werden. Mehr offene Fragen als Antworten. Sogenannte dauerstabile Plasmen zählen derzeit noch zu den innigsten Wünschen der Wissenschaftler. Es könnte übrigens auch gut sein, daß es nicht möglich ist, ein Fusionskraftwerk zu bauen, mit dem wirtschaftlich Strom erzeugt werden kann.
„Erneuerbare Energien plus Strom und grüner Wasserstoff aus Fusion“
Da wirkt die Ankündigung Laukiens realistischer, daß die „Gaussfusion“ frühestens ab 2045 Strom produzieren könne. Noch bevor feststeht, ob ein Fusionskraftwerk überhaupt funktioniert, will der Deutschamerikaner schon die bisherigen AKW-Standorte nutzen: Kernspaltung abschalten – Kernfusion anschalten. „Erneuerbare Energien plus Strom und grüner Wasserstoff aus Fusion – das wäre meiner Ansicht nach der beste Mix für eine wirklich nachhaltige Energieversorgung“, so wirbt der 62jährige Physiker in einem Riffreporter-Interview bei der grünen Leserschaft für seine Idee.
Keinen GAU à la Tschernobyl gibt es auch beim Dual Fluid Reaktor (DFR). Doch dessen Erfinder hatten es schwer, in der Heimat Fuß zu fassen. Sie haben ihre Firma in Kanada angesiedelt, denn der DFR nutzt die „böse“ Kernspaltung, dafür gibt es kein BMBF-Geld. Der 1973 in Betrieb genommene Berliner Experimental-Reaktor (BER II) des früheren Hahn-Meitner-Institus wurde 2019 endgültig abgeschaltet. Immerhin ermöglicht das absehbar scheiternde Projekt „Energiewende“, daß das KIT und das Max-Planck-Institut für Plasmaphysik im bayerischen Garching auch unter der Ampel an der Kernfusion forschen können. Und das nächste Filo-Treffen findet am 5. Juni sogar beim Industrieverband BDI in Berlin statt.