Erinnerungen an die DDR-Zeit sind wichtig, schon aufgrund der Lehren, die wir daraus für die Gegenwart ziehen können. Gerd Pradel hat seine Memoiren als DDR-Grenzschützer aufgeschrieben. Folgerichtig erzählt er die Geschichte des Eisernen Vorhangs aus der entgegengesetzten Perspektive zu den bekannten Fluchterzählungen. Dabei war Pradel kein hundertprozentiger Anhänger des einstigen Grenzregimes. Er wurde 1980 eingezogen, zur Grenztruppe versetzt und mußte 18 Monate Wehrdienst im Harz, in unmittelbarer Nähe des Brocken, verrichten.
Sich dagegen zu wehren hätte schließlich zu härtesten Repressionen geführt und den 23jährigen Familienvater sicherlich komplett überfordert. Eigentlich hatte Pradel studieren wollen, doch die Voraussetzungen dafür waren eine Parteimitgliedschaft oder die Verpflichtung zu drei Jahren Wehrdienst. Beides wollte er nicht erfüllen. Daß Pradel überhaupt an die Grenze versetzt wurde, war ungewöhnlich, denn Westverwandtschaft galt hierfür als Makel.
Dabei war Pradel durchaus ein kleiner Rebell. Er tat den Dienst mit Widerwillen, kuschte nicht immer, fragte kritisch im Politunterricht nach, und wenn ihm der Kragen platzte, bekamen auch Vorgesetzte durchaus sehr mutigen Widerspruch zu hören. Eindringlich schildert Pradel den Grenzeralltag, mit stumpfsinnigen Befehlen, Schikane, Gruppenbestrafungen, intransparenter Gabe von Arzneimitteln. Auch das ständige Geschrei und die ins Mark ziehende Kälte, aber ebenso viele subversive Streiche der Gefreiten. Hinzu kam die Vorsicht in Gesprächen, denn jeder Kamerad konnte ein SED-Genosse oder Stasi-Spitzel sein. Seine Sorge, in die Zwangslage zu kommen, einen Menschen erschießen zu müssen, verschweigt Pradel bei alledem nicht. Besonders interessant ist ein Arztbesuch in Potsdam. In einer Gaststätte dort wird er ob seiner Uniform von drei Männern beobachtet und auf der Toilette bedroht. „Rote Sau“, „Scheißgrenzer“ und „Kommunistenbüttel“ rufen sie. Prügel droht, der er nur durch die Beteuerung, als Wehrpflichtiger zwangsweise an die Grenze versetzt worden zu sein, entgehen kann.
Pradel berichtet, wie er sich beim Beginn seines Buches um eine professionelle Schreibhilfe bemüht hatte. Der Profi hätte gefragt: „Haben Sie jemanden erschossen?“ Als Pradel verneinte, erlosch dessen Interesse sofort. So wurden bloß die Erlebnisse eines kleinen Grenzers zu Papier gebracht, keine spektakuläre Story geboten. Er schildert vielmehr den Alltag, die kleinen Begebenheiten und die Tristesse des Soldatendaseins, wie sie auf der anderen Seite des Grenzzauns wohl viele einstige Wehrpflichtige der Bundeswehr erlebt haben dürften.
Gerd Pradel: Wächter der eigenen Gefangenschaft. Novum pro Verlag, Berlin/München 2022, broschiert, 244 Seiten, 18,90 Euro