© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 09/23 / 24. Februar 2023

Wie die Politik uns in Gruppen einteilt und damit die Spaltung der Gesellschaft vorantreibt
Gruppiere und herrsche
Ulrich van Suntum

Der Kommunismus ist tot – so begann James M. Buchanan seine Rede auf einer Tagung auf dem Bonner Petersberg kurz nach der Wende. Der liberale Ökonom und Nobelpreisträger des Jahres 1986 war fest davon überzeugt, daß das Zeitalter des Sozialismus endgültig beendet sei. Er hat sich geirrt. Heute erleben wir eine Rückkehr zu diesem nur scheinbar überwundenen Gesellschaftssystem, ironischerweise gerade in den westlichen Industrieländern.

Anfangs spielten dabei die Umstellungsprobleme der früher kollektivistisch ausgerichteten Wirtschaftssysteme auf Markt und Wettbewerb eine große Rolle. Es formierte sich bald Widerstand gegen die „Auswüchse des Kapitalismus“. Ihm wurden alle Mängel zugeschrieben, die in Wahrheit noch dem Erbe des Sozialismus geschuldet waren. Namentlich in Deutschland gelang es so der SED, unter neuem Namen PDS und später Die Linke wieder politisch Fuß zu fassen. Zunächst auf kommunaler Ebene, dann auch in Bund und Ländern gelangte sie so allmählich wieder zu Akzeptanz und Einfluß. Mittlerweile sitzt sie nicht nur im Bundestag, sondern auch in neun von sechzehn Länderparlamenten. In Bremen und Berlin regiert sie mit, und in Thüringen stellt sie seit 2014 mit Bodo Ramelow sogar den Ministerpräsidenten.

Bedeutsamer als die Wahlerfolge der Linken war jedoch der allgemeine Linksruck anderer Parteien, beispielsweise der CDU. Man darf nicht vergessen, daß auch sie ursprünglich eine sozialistische Grundausrichtung hatte, wenngleich christlich geprägt und kombiniert mit einem eher konservativen Menschen- und Familienbild. Allein dem Einfluß Ludwig Erhards und dem Erfolg der von ihm durchgesetzten Preisfreigabe war es zu verdanken, daß das Ahlener Programm der Partei 1947 durch die wirtschaftsliberaleren „Düsseldorfer Leitsätze“ ersetzt wurde. Die SPD folgte dem 1959 mit ihrem Godesberger Programm. Die Grünen zogen erst 1983 in den Bundestag ein. Sie haben maßgeblich dazu beigetragen, das inzwischen etablierte marktwirtschaftliche Denken wieder in eine eher planwirtschaftliche Richtung zurückzuführen. Das lag auch daran, daß viele ihrer Mitglieder aus maoistischen Kreisen kamen. In dem aufkommenden Umweltthema und später im sogenannten „Klimaschutz“ sahen sie ein willkommenes Vehikel, ihren kollektivistischen Vorstellungen neuen Glanz zu verleihen.

Den entscheidenden Schlag aber versetzte dem liberalen Denken die sechzehnjährige Regentschaft von Angela Merkel (CDU). Ihren ersten Wahlkampf 2005 bestritt sie noch mit ausgeprägt wirtschaftsliberalen Inhalten, erlitt damit jedoch um ein Haar Schiffbruch. Ihr designierter Finanzminister, der frühere Verfassungsrichter Paul Kirchhof, wurde von Gerhard Schröder erfolgreich als weltfremder „Professor aus Heidelberg“ verspottet. Der anschließend gebildeten Großen Koalition unter Führung Merkels gehörte er denn auch nicht an. Aber Merkel hatte aus der Beinahe-Niederlage gelernt. Künftig räumte sie linke und grüne Wahlkampfthemen einfach dadurch ab, daß sie diese selbst übernahm. So war es beim plötzlichen Atomausstieg nach Fukushima 2011, bei der Einführung eines Mindestlohnes 2015 und der bundesweiten „Mietpreisbremse“ im gleichen Jahr. Von da an bestimmten statt marktwirtschaftlicher Grundsätze zunehmend populistische Schlagworte wie „bezahlbares Wohnen“, „fairer Lohn“, „Geschlechtergerechtigkeit“ oder „Vorrang für die Umwelt“ die Wirtschaftspolitik. Die Übertragung wesentlicher Befugnisse auf die EU in der Finanz- und Währungspolitik tat ein übriges. Namentlich den Franzosen war der marktwirtschaftliche Kurs Deutschlands schon immer fremd gewesen, und auch die südlichen Mitgliedsländer hatten für deutsche Stabilitätskultur nicht allzuviel übrig. Mittlerweile stehen die im Maastrichter Vertrag mühsam ausgehandelten Stabilitätskriterien nicht einmal mehr auf dem Papier, und von Geldwertstabilität redet bei zweistelligen Inflationsraten auch niemand mehr.

Der Niedergang des Liberalismus beschränkt sich aber nicht nur auf wirtschaftliche Themen. Noch deutlicher ist er in der Gesellschaftspolitik, wo mittlerweile das kollektivistische Denken klar die Oberhand gewonnen hat. Ein Beispiel dafür ist die „Gleichstellungspolitik“, die immer stärker mit Quoten anstelle einer Beurteilung des Einzelfalls agiert. So fallen männliche Bewerber immer öfter nur deshalb durch, weil die Gruppe der Frauen noch nicht angemessen repräsentiert ist. Dies steht in klarem Gegensatz zum Wortlaut des Grundgesetzes, wo es in Artikel 3 heißt: „Niemand darf wegen seines Geschlechtes (...) benachteiligt werden“. Diese auf das jeweilige Individuum abhebende Bestimmung wird jedoch ausgehebelt durch den zweiten Absatz des gleichen Artikels, der 1994 neu eingefügt wurde. Dort wird nämlich dem Staat ausdrücklich aufgegeben, die „tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern“ zu fördern. Dieser Absatz zielt offenbar nicht mehr auf das Individuum, sondern auf die jeweilige Gruppe und deren Repräsentation in der Gesellschaft ab. Er wird daher regelmäßig zur Rechtfertigung von Quotenregelungen und anderen Bevorzugungen herangezogen, obwohl diese das jeweils negativ betroffene Individuum des anderen Geschlechts diskriminieren.

Eine unheilvolle Rolle spielt bei diesen Vorgängen auch die Statistik bzw. deren Mißbrauch. Nicht auszurotten ist zum Beispiel die Behauptung, Frauen würden 18 Prozent weniger pro Stunde verdienen als Männer und seien daher am Arbeitsmarkt benachteiligt. Der weitaus größte Teil dieses sogenannte „Gender Pay Gap“ geht darauf zurück, daß Frauen andere Berufe wählen, im Durchschnitt weniger qualifiziert sind und oft nur Teilzeit arbeiten. Bereinigt man die Statistik um solche Faktoren, wie es das Statistische Bundesamt auch regelmäßig tut, bleibt von der angeblichen Diskriminierung praktisch nichts mehr übrig. Trotzdem wird jedes Jahr am 7. März unverdrossen der „Equal Pay Day“ ausgerufen, um die längst widerlegte Legende am Leben zu halten.

Auch auf anderen Gebieten werden unreflektiert statistische Durchschnitte zur Begründung von individuellen Einschränkungen und Verboten herangezogen. So rechtfertigt die EU das ab 2035 geltende Verbot für Verbrenner-Motoren damit, daß der Verkehr als einziger Sektor einen Anstieg der CO2-Emissionen aufweise. Das Verbot trifft aber auch viele Menschen, die zwar Auto fahren, aber insgesamt vielleicht trotzdem umwelt- und klimafreundlicher leben als andere. Das nützt ihnen aber nichts, denn gemäß der kollektivistischen Herangehensweise gehören sie als Autofahrer einfach der benachteiligten Gruppe an.

Noch bedenklicher ist dies, wenn es um politische oder weltanschauliche Einstellungen geht. So kann man gemäß der sogenannten Kontaktschuld schon allein dadurch in Schwierigkeiten kommen, daß man in der falschen Chatgruppe ist. Und zwar auch dann, wenn man dort selbst gar nichts Verwerfliches – oder vielleicht sogar überhaupt nichts – gepostet hat. Regelmäßig werden auch Künstler, Wissenschaftler oder ganz normale Bürger nur deswegen geächtet, weil sie zum Beispiel „der AfD nahestehen“ oder „ihre Vorurteile bedienen“, nur weil sie vielleicht in Einzelfragen ähnlich denken. Interessanterweise macht man hier genau das, was man sich zum Beispiel bei Flüchtlingen verbittet: Von fragwürdigen Äußerungen oder Taten einzelner Mitglieder einer Gruppe auf die gesamte Gruppe zurückzuschließen. Und umgekehrt ist dann die Zugehörigkeit zu diesem Kollektiv bereits ein Ausschlußkriterium für die Teilnahme am öffentlichen Leben – völlig unabhängig vom Leumund und Verhalten der betreffenden Einzelperson.

Von der Politik wird dieses Denken in Kollektiven bewußt gefördert, denn es erleichtert ihr die Unterdrückung individueller Ziele zugunsten politischer Vorgaben. „Gemeinsam gegen Corona“, „Wir schaffen das“, „Zusammen für den Klimaschutz“ – so kann man auch massive Eingriffe in die Rechte und Interessen der Bürger schönreden. Nur beim Geld hört die Gemeinschaft meist schnell auf. Dann heißt es vielmehr „Das Wir bestimmt, das Ihr zahlt“. So wird der ursprünglich für alle geltende Solidaritätszuschlag inzwischen ausdrücklich nur noch von der Gruppe der bestverdienenden zehn Prozent der Bevölkerung erhoben. Auch von der Erbschaftsteuer werden große Teile der Bevölkerung durch üppige Freibeträge verschont, während man andere um so stärker zur Kasse bittet. Bei Anwendung des Individualprinzips müßte dagegen grundsätzlich jeder zahlen, wenn auch im Verhältnis zu seinem Einkommen beziehungsweise Vermögen.

Aber Einzelfallgerechtigkeit zählt nicht mehr viel in unserer Gesellschaft. Politik wird im Gegenteil bevorzugt damit gemacht, die Bevölkerung in Kollektive einzuteilen und dann gegeneinander auszuspielen: Mieter gegen Vermieter, Privatpatienten gegen gesetzlich Versicherte, Rentner gegen Pensionäre, Autofahrer gegen Radfahrer, Frauen gegen Männer, Ausländer gegen Einheimische – die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Dabei gibt es in der Realität unendlich viele Differenzierungen, die sich gerechterweise nur im Einzelfall klären lassen. Aber das ist natürlich mühsamer als das Schüren von Konflikten nach dem Prinzip „divide et impera“. So wird uns wohl der Marsch in die Kollektivgesellschaft weiter begleiten, betrieben von denjenigen, die zugleich die Spaltung der Gesellschaft und zunehmenden Haß aufeinander beklagen.






Prof. em. Dr. Ulrich van Suntum, Jahrgang 1954, lehrte von 1995 bis 2020 Volkswirtschaft an der Universität Münster. Er betreibt einen Youtube-Kanal mit Lehrvideos zu VWL und Schach sowie eigener Klaviermusik.