Das Paralleluniversum wächst, reale und virtuelle Welt verschmelzen. Im Cyberspace werden Karrieren gemacht und Existenzen erschaffen. Eine davon trug den Namen Alexander Axt. Kein Influencer, kein Promi, weder Star noch Sternchen. Vielmehr ein Geflüchteter: vor dem Zeitgeist, vor der bundesdeutschen Infantilität, vor der Überflutung mit Empathie und Verletzbarkeit.
Sohn eines Sowjetbürgers und einer Deutschen, verkörperte er das Beste beider Wurzeln (oder was Konservative dafür halten). Letzteres bescherte ihm eine breite Jüngerschaft auch unter den Lesern dieser Zeitung. Ein kluger Kopf schrieb, Axt sei der Nordpol vieler Kompaßnadeln. Und das trotz des Bekenntnisses zu seiner zweiten Heimat, der Deutschen Demokratischen Republik. Nach unbeschwerten Kindertagen beim Vater in der UdSSR wurde er wider Willen nach Deutschland verbracht, diente in der Kriegsmarine seines kleinen Staats und brachte es bis zum NVA-Hauptmann der Reserve.
Mit Verve geschriebene Anekdoten aus Kindheit und Sibirien
Mit dem Untergang des Sozialismus war er den -ismen abhold; auf die Zumutungen des „Fortschritts“, auf Massenindividualismus und Massendemokratie reagierte er mit dem Rückwärtsgang. Erst recht brauchte Axt keine Westdeutschen, die ihm erklärten, wie Freiheit funktioniert. All das machte ihn zum exemplarischen Kandidaten des Waldgangs, mehr noch des Waldgangs in den hyperboräischen Breiten, die schon Herodot weit hinter dem Norden verortete. Anfangs versuchte er noch, als Ingenieur in Deutschland Fuß zu fassen, war später auch in China unterwegs. Doch erst in den mythischen Räumen jenseits des Amur-Flusses, in der Äußeren Mandschurei am gegenüberliegenden Ende Eurasiens, fand er Ruhe vor den Nachstellungen einer lächerlichen Gegenwart.
An die zehn Jahre lang versorgte er eine wachsende Facebook-Gemeinde mit Erinnerungen aus dem Zettelkasten seiner Vita. Mit Verve geschriebene Anekdoten: Kindheit, Kriegsmarine, Sibirien. Zugleich erging er sich in nächtlicher Messenger-Korrespondenz. Frauen erlagen seiner altmodischen Männlichkeit wie Pheromonen, der höfisch-höflichen Sprache, süß wie Kuvertüre auf einem Praliné viriler Präsenz. Manchen schickte er sogar rot gesiegelte Briefe, Jane-Austen-Stil, ohne Umschlag gefaltet, ohne Absender.
So wurde Axt, der Katholik und zupackende Gazprom-Ingenieur, zur Projektionsfläche postdemokratischer Sehnsüchte: ein Tatmensch, kein androgynes Hänschen im Konfirmandenanzug, ein He-Man, keine urbane Heulsuse. Ein potentes Faszinosum noch für die klügsten Kritiker der Zeit. Kein Wunder, daß der Journalist Matthias Matussek die „Frage der Fragen“ stellt: „Gab es Alexander Axt wirklich oder war er einfach zu gut, um wahr zu sein?“
In der Tat, solche Zweifel rankten sich um Axts gesamte Existenz. Niemand hat ihn je zu Gesicht bekommen. Die (inzwischen deaktivierte) Facebook-Profilseite enthielt nur drei Fotos, ein grimmiges Halbprofil und zwei aus jungen Jahren. Keine Selfies, nichts. Ansonsten Textbeiträge. Auch die Webseite traxaxt.com, (angeblich) vom ältesten Sohn betrieben, hilft nicht weiter. Die angegebene Kontaktadresse im sächsischen Königsfeld existiert nicht. Eine Neugasse gibt es, doch keine Hausnummer 103.
Die Nachricht vom Ableben des Alexander Axt kam am 9. Februar, am Tag nach einer von ihm selbst angekündigten Not-OP nach einem Betriebsunfall. Ein Facebook-Post im formalen Stil einer Todesanzeige: In tiefer Trauer teilen wir mit et cetera pp., gefolgt von den Vornamen der zwei Enkel, sechs Söhne und drei Ehefrauen. War der zitierte Bibelspruch (Johannes 11,25) der nächste blanke Kieselstein aus Hänsels Tasche: „Wer an mich glaubt, der wird leben, gleich ob er stürbe“?
Alle Annäherungsversuche mißlingen. Die Kontakt-E-Mail auf der Webseite antwortet nicht, eine Bitte um Rückruf verhallt ungehört. Immerhin ist der Ort der Trauerfeier angegeben: Swobodny, eine 60.000-Einwohner-Stadt in der Oblast Amur, Rußland. Acht Zeitzonen voraus, aber telefonisch erreichbar.
Die Gazprom-Niederlassung in Swobodny weiß nichts von einem Betriebsunfall mit Todesfolge, nichts von einem deutschen Ingenieur. Auch die drei Bestattungsunternehmen winken ab. Keines hat in der Vorwoche einen Ingenieur mit deutschen Wurzeln begraben. Mit jedem Telefonat wird wahrscheinlicher, daß Alexander Axt eine Kunstfigur war.
Und wenn? War Axt ohne Körper weniger Axt? Fragen wir die Damen: War seine virtuelle Männlichkeit nicht ungleich „wirklicher“ als die der realen Hermaphroditen des Regenbogen-Hypes? Eines hat uns Alexander Axt gelehrt: Sein oder Nichtsein ist nicht mehr die Frage. Requiescat in pace.