© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 09/23 / 24. Februar 2023

Geistige Heimatverteidigung
Berlinisch-brandenburgische Schreibwelten: Günter de Bruyns Werke sind von unverdünnter Aktualität
Wolfgang Müller

Am 16. November 1976 bürgerte das SED-Regime den renitenten Bänkelsänger Wolf Biermann aus und verweigerte ihm nach einer Konzertreise in Westdeutschland die Rückkehr in die DDR. Die Nachricht darüber bescherte Günter de Bruyn eine schlaflose Nacht. Der damals zwischen Mitlaufen und Distanzhalten wechselnde, nach der Wiedervereinigung als einer der „wichtigsten Schriftsteller unserer Zeit“ (Frank Schirrmacher) gerühmte Romancier und Essayist  kannte den „Kämpfer“ Biermann zwar gut, bewunderte ihn sogar wegen des ihm selbst fehlenden Mutes, Konfrontationen mit Staat und Partei zu suchen. Lust auf Freundschaft verspürte er hingegen nie, weil ihn der narzißtische Charakter des roten Zupfgeigenhansel, der Anbeter, keine Freunde suchte, genauso abstieß wie dessen unbeirrbar naiver Glaube an die Richtigkeit der idealkommunistischen Menschheitsbeglückungsidee.

Was de Bruyn aufwühlte, war darum weniger Biermanns Ausbootung als das von ihr ausgehende Signal, die schreibende Zunft des mitteldeutschen Arbeiter- und Bauernstaates möge fortan mit einer verschärft „repressiven Kulturpolitik“ rechnen. Um die Lage zu sondieren, klingelte de Bruyn bei Christa und Gerhard Wolf, wo die Fäden der mit einer Resolution protestierenden Biermann-Unterstützer zusammenliefen und deren Wohnung in der Ost-Berliner Friedrichstraße deswegen einem von der Stasi obervierten Bienenkorb glich. Jedoch nicht in ein „Verschwörernest“ schneite er da hinein, sondern in eine Runde von Kindern, die sich über einen frechen Streich freuten, während sie ihre Angst vor den bösen Folgen durch Lachen und Schwadronieren zu vergessen versuchten. In jener trüben Herbstnacht, so erinnert sich der an Fontane geschulte Skeptiker, sei ihm beim Abschied von den Wolfs eine „galgenhumorige“ Idee gekommen. Wenn Romane mit Gegenwartsstoffen künftig keine Chance mehr bei der Zensur hätten, dann müsse man, um die „Eiszeit“ zu überleben, eben ins Märkische und Historische ausweichen. 

Das Unbehagen am realexistierenden Sozialismus

Den beim Anziehen des Mantels eher spaßhaft erwogenen Rückzug in die berlinisch-brandenburgische Literaturprovinz von Anno dazumal setzten der inzwischen aus der SED ausgeschlossene Gerhard Wolf und der ihr nie angehörende de Bruyn mit der von ihnen seit 1980 edierten Buchreihe „Märkischer Dichtergarten“ um. Die bis zum Mauerfall veröffentlichten Auswahlausgaben der Werke und Briefe von Friedrich de la Motte-Fouqué, Ewald Christian von Kleist, Anna Louisa Karschin, Friedrich Wilhelm August Schmidt von Werneuchen, E. T. A. Hoffmann, Ludwig Tieck, Bettina und Ludwig von Arnim, Rahel Varnhagen, Fontane, Heine und Lessing öffneten dem Publikum des sozialistischen Leselands DDR freilich nicht die Pforte ins unpolitische Reservat literarischer Heimatverteidigung, wie es de Bruyn und Wolf unter dem Schock der Biermann-Affäre ursprünglich vielleicht vorgeschwebt haben mochte.

Denn sie zogen sich damit gerade nicht aus den kulturpolitischen Kämpfen zurück, sondern setzten sie im Medium der Literaturgeschichte fort. Geschickt kompilierte Texte und ausführliche Nachworte auf hohem wissenschaftlichem Niveau halfen, weiterhin das Unbehagen an der ausgebliebenen Demokratisierung und Humanisierung des realexistierenden Sozialismus zu nähren, wie jetzt ein zum Gedenken an den 2020 mit 93 Jahren verstorbenen Fontane redivivus publiziertes Themenheft „Märkische Dichterzirkel“ der Zeitschrift für Germanistik (3/2022) und ein phantastischer Begleitband zur großen, 2021/22 durch Brandenburg gewanderten  Ausstellung „Günter de Bruyn – Schreibwelten“ dokumentieren.

Angriffsziel ihrer mit jedem Auswahlband klarere Konturen gewinnenden alternativen Literaturgeschichte war die Hegemonie des SED-Kanons, der den „Massen“ die zukunftsfrohe Aufklärung, die Weimarer Klassik und den Vormärz als fortschrittliches und politisch vorbildliches „kulturelles Erbe“ verordnete, während die Romantik bis in die späten 1970er als Vorstufe zum „Faschismus“ galt. Schon der erste, von de Bruyn herausgegebene Band, Fouqués „Romantische Erzählungen“, sollte diese offiziöse  literaturpolitische Doktrin in Frage stellen. Ein unzeitgemäßerer Autor als der „märkische Don Quichote“ wäre dafür schwerlich zu finden gewesen. Fouqué verkörperte alles, was die immer recht habende Partei haßte: Preußentum und Protestantismus, Romantik und Reaktion. Auch de Bruyn wollte, anders als der von ihm hochverehrte Arno Schmidt in seiner monumentalen Biographie („Fouqué und einige seiner Zeitgenossen“, 1958), den germanische Vorzeit und christliches Mittelalter verklärenden Verfasser zahlreicher Ritter-Romane nicht ernstlich als bedeutenden Dichter rehabilitieren. Aber am warnenden Beispiel dieses vergessenen adligen Vielschreibers, dessen kurzer Ruhm nur so lange währte, wie  sich seine im preußischen Befreiungskrieg gegen Napoleon das Nationalgefühl aufpeitschenden Romane gut verkauften, ließ sich zwischen den Zeilen die „Tragödie von Tendenzschriftstellern“ jenen parteikonformen DDR-Kollegen vor Augen führen, die nie begriffen, daß allein aus Gesinnung keine gute Literatur entsteht. Und nicht nur denen, denn wie alle anderen Bände der Reihe erschien die Fouqué-Anthologie fast zeitgleich bei S. Fischer im Westen, einem Stammverlag „engagierter“ Sympathisanten des SED-Staates.

Wie Uwe Hentschel (TU Chemnitz) in seinem Zeitschriftenbeitrag anhand des einzigen Textes aus Fouqués Feder zeigt, der weltliterarischen Ranges ist, der Meistererzählung vom Meerfräulein Undine, das die gescheiterte Verbindung eines Naturwesens mit der menschlichen Zivilisation thematisiert, wirbt de Bruyn mit einem „Trivialautor“, auf dessen „Rückständigkeit Verlaß ist“, zugleich für eine Aufwertung romantischer Weltsicht. Was Max Horkheimer und Theodor W. Adorno 1947 („Dialektik der Aufklärung“) unter dem Eindruck von Weltkrieg, Völkermord und technisch perfektionierter Ausbeutung von Mensch und Natur in den stählernen Gehäusen des kapitalistischen wie sowjetsozialistischen Systems entdeckten, daß die „vollends aufgeklärte Erde im Zeichen triumphalen Unheils“ strahlt, haben Romantiker wie Fouqué, Hoffmann und Tieck vorweggenommen. Für Barry Murnane (Oxford) enttarnten sie bereits in der Geburtsstunde des Industriezeitalters die „Nachtseiten der rationalisierenden, quantifizierenden gesellschaftlichen Moderne“. Dementsprechend mußte das Lob ihres multiperspektivischen Erzählens, der phantastischen, märchenhaften Elemente ihrer Prosa, die platte Wirklichkeitsauffassung des „sozialistischen Realismus“ brutal blamieren. 

Grabgesang auf einen kleinbürgerlichen Ideologiestaat

De Bruyn ging dabei nicht so weit wie Arno Schmidt, der die „großen Vier“, Hoffmann, Tieck, Brentano und Fouqué, als die wahren Realisten pries, weil sie in einem unstabilen Menschenalter, dem fast 30jährigen Krieg zwischen 1789 und 1815, anders als die „Daseinsstabilität“ vortäuschenden Aufklärer und die Weimarer Klassiker, das tobende Chaos nicht in einen poetischen Kosmos verwandelten: „Immer ist Krieg, Wirrwarr, Schwerterklirren“ in Fouqués Ritterromanen. Und Hoffmanns „Gespenster in der Friedrichstadt“, denen Murnane in seinem Beitrag über „schauerphantastische Wanderungen auf märkischem Boden“ nachjagt, Heiner Müllers nie stockende Suada über die „unheimliche Wiederkehr deutscher Vergangenheit in der DDR“ dabei einbeziehend, erwecken, wie Schmidt 1959 sarkastisch notiert, beileibe kein Vertrauen in geordnete Verhältnisse, da „Hexen und Zauberer jeden Augenblick Unfug pfuschen können“.

Der härteste Schlag, den de Bruyn im Nachwort des Fouqué-Bandes – überhaupt die Nachworte des „Märkischen Dichtergartens“: Sie sind in summa ein (zwangslos auf die „multikulturell-weltoffene“  bundesrepublikanische Misere übertragbarer) Grabgesang zu Lebzeiten auf einen kleinbürgerlichen Ideologiestaat, der seine Identität fern von nationaler, regionaler, lokaler Identität im utopischen Nirwana der grenzen- und klassenlosen Gesellschaft suchte – austeilt, findet sich in der unscheinbaren Passage, die einen Besuch in Nennhausen, Jahre vor der „Wende“, schildert. Neben der Ruine des Fouqué-Schlosses, wo einst Heinrich von Kleist, Wilhelm von Humboldt, Chamisso und E.T.A. Hoffmann verkehrten, mitten in den traurigen Resten des verkommenen Parks, verpestete ein Genossenschaftsschweinestall die Luft mit Jauchedünsten. Hier offenbarte sich in der märkischen Nußschale im wörtlichen Sinne ein Schweinesystem, das für de Bruyn die Diskreditierung der Traditionswelt, die Auslöschung des Gewordenen, den Abbau des Menschlichen zur Staatsraison erklärte. 

Selten wird in dem auch von Monika Grütters (CDU), Claudia Roths (Grüne) Vorgängerin als Kulturstaatsministerin, subventionierten  „Schreibwelten“-Band ein Brückenschlag von der DDR zur Berliner Republik gewagt. Bei ihrer vorsichtigen Andeutung zur unverdünnten Aktualität von de Bruyns Œuvre in den „neuen Unüberschaubarkeiten des globalisierten Gesamtdeutschland“ hätte Christiane Barz, die Kuratorin der Ausstellung, jedoch getrost einmal auf die Windräder und die Massenquartiere für „Flüchtlinge“ verweisen dürfen, die heute anstelle der LPG-Schweineställe nicht nur die Kulturlandschaft Brandenburgs verheeren.

Christiane Barz u. a. (Hrsg.):  Günter de Bruyn – Schreibwelten. Zwischen märkischer Kulturgeschichte und deutscher Gegenwart, Quintus-Verlag, 2. Auflage Berlin 2022, broschiert, 232 Seiten, Abbildungen, 28 Euro