Zu den dominanten Tendenzen im westlichen Politikbetrieb zählt der Machtverlust der Parlamente. In den letzten Jahren legte man den Abgeordneten öfter Beschlußfassungen vor, die in Hinterzimmern von global Einflußreichen ausgekungelt und dann als alternativlos verkauft wurden. Man hat vom Bundestag spöttisch als dem teuersten Abnickverein der Welt gesprochen, der ohnehin zum großen Teil nur noch Vorlagen in Gesetzesform zu gießen hat, die von „Brüssel“ vorgegeben sind. Lebendige Debatten finden, wenn überhaupt, in medialen Talkrunden statt.
Die Krise des Parlamentarismus ist kaum zu leugnen; dennoch kann man die heutige Situation nicht mit der von 1923 vergleichen, als die Regierungsbildung in Deutschland mißlungen war und der Reichspräsident eingreifen mußte. Hyperinflation und Ruhrbesetzung schürten die inneren Konflikte weiter. Als Schuldige wurde gern die angeblich aus dem Westen importierte republikanische Regierungsform ausgemacht.
Entscheidungen im Parlament stehen schon vorher fest
Damals dachte ein nicht nur in Expertenkreisen bekannter Staatsrechtslehrer über das Herzstück des liberaldemokratischen Systems nach: Carl Schmitt hatte es als nüchterner Gelehrter nicht nötig, die antiparlamentarischen Affekte weiter zu nähren, die dank linker wie rechter Extremisten auf den Straßen omnipräsent waren; vielmehr bemühte er sich um eine Art wissenschaftliche Delegitimation des Weimarer Regierungssystems. Im Ergebnis war er aber nicht weit von jenen entfernt, die gegen die „Schwatzbude“ Reichstag agitierten.
Dennoch ist die von dem seinerzeit in Bonn lehrenden Juristen vorgetragene geistesgeschichtliche Genealogie als scharfsinnig zu bezeichnen. Schmitt skizzierte die Hintergründe der Entstehung des Parlamentarismus. Dieses Kunstwort, das eine Verallgemeinerung verschiedener Regierungssysteme bedeutet, breitete sich im frühen 19. Jahrhundert aus, als die Monarchen landständische Verfassungen gewährten. Die Herrscher wollten ihre Untertanen wenigstens marginal an Regierungsentscheidungen beteiligen. Zu einer nationalen Organisation des Parlaments, die in Staaten wie Frankreich oder England bereits eine jahrhundertelange Tradition besessen hatte, kam es in Deutschland erst Mitte des 19. Jahrhunderts, als sich Vertreter aller deutschen Stämme in Frankfurt am Main trafen. Das Paulskirchen-Projekt scheiterte bekanntlich.
Schmitt geht es jedoch nicht in erster Linie um eine historische Rekonstruktion, sondern primär um eine geistessoziologische. Er ordnete das Phänomen „government by discussion“ in die Gedankenwelt des Liberalismus ein. In den frühen Abgeordnetenkammern waren es vor allem Bildungs- und Besitzbürger, die den Austausch von Argumenten pflegten. Damals herrschte, Schmitt zufolge, ein „Glaube“ an „Wahrheitsfindung und Richtigkeit“. Dieser läßt metaphysische Vorstellungen von Öffentlichkeit erkennen.
Diese Sichtweise ist rückblickend überaus idealtypisch. Schmitt möchte vor allem nachweisen, daß eine solche Weise der Regierungsbeteiligung vielleicht hundert Jahre früher noch angemessen gewesen sei. Keinesfalls seien solche Repräsentationsformen in seinem massendemokratischen Zeitalter, das sich infolge der industriegesellschaftlichen Dynamik entwickelt hat, noch tragfähig. Sie gelten dem Kritiker als überholt.
Im aktuellen Parlamentsbetrieb steht seiner Meinung nach nicht der Austausch von Argumenten im Vordergrund. Sie würden höchstens für die Öffentlichkeit vorgetragen, die mittels moderner Medien (wie dem Radio) eine neue Rezeptionsmöglichkeit vorfindet. Unter massendemokratischen Bedingungen seien es vornehmlich Lobbyorganisationen, die Einfluß gewinnen wollen. Die Entscheidung des Abgeordneten sei nicht von Inhalten bestimmter Diskussionen abhängig. Sie stehe schon vor den Kontroversen im Hohen Haus fest.
Widerstreit zwischen liberalen und demokratischen Vorstellungen
Vor diesem Hintergrund unterscheidet Schmitt die Strömungen von Liberalismus und Demokratie. Liberale bevorzugten Gleichheit nur auf rechtlich-politischem Feld – und das im Sinne einer ethisch-humanitären Universalmoral, die letztlich das Staatsethos unterhöhle. Ungleichheit dagegen priorisierten sie auf ökonomischem Terrain. Im Zentrum der demokratischen Lehre stehe hingegen die substantielle Gleichheit in Form ethnischer Homogenität, die im Staat nicht umhinkomme, Heterogenes auszuscheiden.
Es bedarf keiner herausragenden intellektuellen Fähigkeiten, um den Taschenspielertrick zu erkennen: Schmitt vergleicht einen Idealtypus des parlamentarischen Betriebs aus der Vergangenheit mit einem Realtypus aus seiner Zeit.
Ungeachtet derartiger Doppelbödigkeiten nahm man die Begründung des „Kronjuristen des Dritten Reiches“ sogar auf der anderen Seite des politischen Spektrums ernst. Der frühe Jürgen Habermas, gelegentlich als „Linksschmittianer“ bezeichnet, vertrat einen vergleichbaren Begriff von Öffentlichkeit. Inhaltlich bezweckte er allerdings etwas anderes als Schmitt: nämlich die Möglichkeit, Demokratisierung mittels des Diskurses zu erreichen. Habermas skizzierte einen Idealtypus von Bürgerlichkeit. Von diesem Geist waren um 1800 intellektuelle Salons, von Diskussionsfreudigen besuchte Kaffeehäuser der Metropolen, aber auch Freimaurerlogen erfüllt. Dieser idealtypisch skizzierte „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ hatte indessen wenig Auswirkungen auf das praktische Alltagsleben insbesondere von Besitzbürgern.
Ein weiterer Vordenker der 68er-Bewegung, der Politologe Johannes Agnoli, rekurrierte ebenfalls in seiner Forderung nach „Transformation der Demokratie“ auf Schmitts Parlamentarismus-Kritik, ohne dessen politische Zielsetzungen zu teilen.
Noch in Auseinandersetzungen der 2010er Jahre, besonders im Widerspruch von Liberalglobalisten und „Populisten“, sind Schmitts Gedankengänge öfter präsent. Für den intellektuellen Tausendsassa ist die wenigstens relativ homogene „ethnische Bürgergemeinde“ Grundlage für eine echte demokratische Herrschaft. „Populisten“ finden in solchen Vorstellungen ihr Idealbild.
Die heutigen „Anywheres“ repräsentieren eine Spielart des Liberalismus, den Carl Schmitt abgelehnt hat: Die Sichtweise, nach der jeder Mensch jedem Menschen auch politisch gleichgestellt ist, sei „ein liberaler, kein demokratischer Gedanke; er setzt eine Menschheitsdemokratie an die Stelle der bisher bestehenden, auf der Vorstellung substantieller Gleichheit und Homogenität beruhenden Demokratie“. Anders als zu Schmitts Zeiten scheinen heute die Vertreter der Menschheitsdemokratie die Oberhand zu haben.
Carl Schmitt: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus. Duncker & Humblot, Berlin 2017, broschiert, 92 Seiten, 19,90 Euro