© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 09/23 / 24. Februar 2023

Die Tage der tumben Toren
Weltfremd: Grimmelhausens „Simplicissimus“, Voltaires „Candide“ und die Nordstream-Omertà
Thorsten Hinz

Um zu verstehen, was mit uns geschieht und an welchem Punkt wir uns befinden, können historische Analogien und literarische Zeugnisse hilfreich sein. So auch die Romane „Der abenteuerliche Simplicissimus Teutsch“ aus dem Jahr 1668 und Voltaires „Candide oder der Optimismus“ von 1759. Der „Simplicissimus“ taucht tief in das Elend des Dreißigjährigen Krieges ein, in eine Zeit, in der Deutschland Schlachtfeld und Beuteland war. Der Verfasser Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen (1621/22–1676) wuchs im südhessischen Gelnhausen auf. Die Stadt wurde von den Spaniern besetzt, die sie „auf den äußersten Grund ruinierten“. 1631 kamen die Schweden, 1634 kehrten spanische und kaiserliche Truppen zurück, darin zahlreiche Kroaten. Zehn Tage lang wurde die Stadt geplündert und niedergebrannt. 

Das vierte Kapitel des ersten Buches, „Simplicii Residenz wird erobert, geplündert und zerstört, darin die Krieger jämmerlich hausen“, gibt eine Ahnung von den Greueln. Hier ist es ein Bauernhof, der heimgesucht wird. Es wird geplündert, gefoltert, vergewaltigt, kaputtgeschlagen. Der zehnjährige Romanheld, der bei Pflegeeltern aufwächst, ist ein tumber Tor, der das Geschehen mit seinem kindlichen Verständnis von der christlichen Weltordnung in Übereinstimmung zu bringen versucht. Wo Barbarei, wilde Instinkte, die Furien des Kriegs sich austoben, müht er sich, der brutalen Absurdität einen höheren Sinn zu verleihen und darin das Walten des Herrgotts zu erkennen, der „ohne Zweifel“ ein „Exempel“ an den Pflegeeltern und allen Erwachsenen statuiert, die „wegen ihrer liederlichen Auferziehung gestraft würden“. Als dem Vater die Fußsohlen mit Salz bestrichen und von einer Ziege abgeleckt werden, deutet der Junge die unwillkürlichen Reaktionen als Zeichen unverstellter Heiterkeit, so daß er „von Herzen mitlachen mußte“. 

Zu seinen Geistesbrüdern zählt Voltaires törichter Candide, der von seinem Hauslehrer Dr. Pangloss in die „Metaphysico-theologico-cosmologie“ eingeführt wird und die Erkenntnis mitnimmt, „daß die Dinge nicht anders sein können als sie sind, denn da alles zu einem bestimmten Zweck erschaffen worden ist, muß es notwendigerweise zum besten dienen“. Beispielsweise dienten die Nasen zum Brillentragen, weshalb es eben auch Brillen geben müsse.

Den Simplicissimus schützt seine Torheit vor der Erkenntnis seiner Situation und damit vor der Verzweiflung. So bleibt er in den Wechselfällen des Schicksals lebenstüchtig. Andernfalls wäre er in den depressiven Zustand verfallen, den Andreas Gryphius im Sonett „Tränen des Vaterlandes anno 1636“ in die Worte faßte: „Wir sind denn nunmehr ganz, ja mehr als ganz verheeret“. Verheerender noch als Hunger, Tod, Pest, Zerstörung wirkte sich aus, „daß auch der Seelenschatz so vielen abgezwungen“ war. Viele Menschen hatten jeglichen Glauben, inneren Halt, ihr tiefstes Selbst verloren. Wie die Naivität des Ich-Erzählers bei Grimmelshausen ein genialer Kunstgriff ist, der den Schrecken mitteilbar macht, nutzt Voltaire die fromme Einfalt seines Candide als Mittel, um seinen Spott über Leibniz’ „beste aller möglichen Welten“ auszuschütten.

Die Tumbheit beider Romanfiguren findet gerade eine reale Aktualisierung in den offiziellen und offiziösen Reaktionen auf die Recherchen des amerikanischen Investigativ-Journalisten Seymour Hersh, die besagen, daß die USA mit Hilfe Norwegens die Nordstream-Piplines gesprengt hätten. Hershs Erklärung ist plausibler als alles, was bisher dazu verbreitet wurde (JF 8/23). 

Die Aktuelle Stunde im Bundestag mit dem Thema „Anschläge auf deutsche und europäische Infrastruktur“ , die am 10. Februar auf Antrag der AfD stattfand, war eine Stunde der Torheit. Für die Redner aus Union, SPD, FDP und Grüne stellte weniger die Sprengung als vielmehr die Gasleitung selbst das Problem dar. Es fehlte nicht viel zu der Aussage, ihre Zerstörung sei ein Zeichen höherer Gerechtigkeit und daher das Beste, was uns überhaupt passieren konnte. Ein CDU-Abgeordneter aus dem tiefen Westen, aus Wuppertal, leitete seinen Redebeitrag mit dem Bekenntnis ein, er sei stolz, daß alle Redner seiner Fraktion Mitglieder der Atlantikbrücke e.V. seien, denn er könne sich nicht erinnern, daß die Amerikaner jemals etwas Schlechtes gemacht hätten. Es war die Stunde der Narren und Toren, wie gesagt.

Auf dem selben Niveau reagieren die allermeisten Medien. Die Frankfurter Rundschau moniert, daß „Hersh nicht Roß und Reiter seiner Informationen nennen kann“, ganz als hätte es keine Jagden auf die Whistleblower Assange, Manning und Snowden gegeben. Der Schreiber konzediert, daß Hershs Geschichte, „sollte sie wahr sein, einen immensen politischen Sprengstoff bergen würde“. Weil aber nicht sein kann, was nicht sein darf, leitet er seinen Kommentar mit der rhetorischen Frage ein: „Hatten die Russen da etwa selbst Hand angelegt, um die Deutschen endgültig von der Gasversorgung zu trennen?“ 

Putin, so wird unterstellt, hätte den Verdacht auf die Amerikaner lenken und die Deutschen gegen sie aufbringen wollen. Das ist denkbar, aber  unwahrscheinlich, denn eine intakte Gasleitung hätte das zuverlässiger und billiger besorgt. Denn mit ihr stand die Frage im Raum, wer und was uns zwingt, immer höhere Energiepreise zu zahlen, statt Nordstream II in Betrieb zu nehmen. Tatsächlich hatten sich bereits öffentliche Proteste daran entzündet, die durch die Sprengung ihr Ziel verloren und rasch erlahmten.

Vor allem aber hätte Putin um eines unsicheren taktischen Vorteils willen eine dauerhafte strategische Selbstbeschädigung riskiert, die der ehemalige polnische Außenminister Radosław Sikorski – der nach der Sprengung „Thank you, USA“ getwittert hatte – wie folgt zusammenfaßte: „Das Scheitern von Nordstream schränkt Putins Handlungsspielraum ein. Wenn er die Gaslieferungen nach Europa wieder aufnehmen will, muß er mit den Ländern sprechen, die die Bruderschaft- und Jamal-Pipelines kontrollieren.“ Zu besagten Ländern zählen die Ukraine und Polen, die mit den USA eng verbunden sind.

Die Äußerungen Joe Bidens und seines Außenministers Blinken lassen gleichfalls an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Blinkens Stellverteterin Victoria Nuland erklärte Ende Januar vor dem Auswärtigen Ausschuß des US-Senats, sie sei, „und ich denke auch die Regierung, sehr erfreut zu wissen, daß Nordstream 2 (…) ein Haufen Metall auf dem Meeresgrund ist“.

Das sind keine Beweise, aber Indizien, die das Interesse von Politik und Medien in Deutschland wecken müßten. Doch die geben sich blöde wie Candide und Simplicissimus. Beschränktheit, Wirklichkeitsverweigerung, kognitive Dissonanzen und Furcht vor Abstrafung verteilen sich im Einzelfall unterschiedlich, aber jeder Einzelfall gehorcht dem Schweigegesetz, der Nordstream-Omertà. Indizien, Fakten, logische Schlüsse werden so ausgewählt, unterschlagen und geframt, daß sie die Göttlichkeit der transatlantischen „Metaphysico-theologico-cosmologie“-Weltordnung keinesfalls in Zweifel ziehen.

Auskünfte zu möglichen Erkenntnissen verweigerte die Bundesregierung „aus Gründen des Staatswohls“, was ein weiteres Indiz ist, daß die Angelegenheit tatsächlich einen „immensen politischen Sprengstoff“ enthält. Seine Explosion wäre freilich ein Rohrkrepierer, denn erstens ist die Bundesrepublik zu praktischen Gegenreaktionen objektiv außerstande und muß sich hüten, den Hegemon zu reizen. Zweitens müßte ehrlicherweise kommuniziert werden, daß sie in wesentlichen Fragen ein Flugzeugträger unter US-Kommando ist, auf dem die Bundesregierung lediglich die mittleren Offiziersränge stellt. Das wäre immerhin der Anfang einer realistischen Lagebeschreibung, die am Beginn einer realistischen Zeitenwende stehen müßte. Doch zu einer derartig komplexen Selbstreflexion ist die politisch-mediale Klasse weder willens noch in der Lage.

Der Begriff „Staatswohl“ umschreibt daher bloß die Schwäche und den Illusionismus eines Staates, der den politischen Hegemon als moralisches Über-Ich verinnerlicht hat. Die USA haben gegenüber der Bundesrepublik stets eine psychologische Doppelstrategie gefahren: Einerseits haben sie, wenn nötig, ihren Zögling mehr oder weniger subtil daran erinnert, daß er einst das schlechthin Böse in die Welt getragen habe und sich weiterhin in der Resozialisierung befinde. Andererseits empfahlen sie sich als diejenige Instanz, die Wohlverhalten durch fallweise Absolution belohnt. Die remigrierte Frankfurter Schule diente als Resonanzverstärker. Daraus entstand eine Hörigkeit, die bis heute die Erkenntnis der eigenen Heillosigkeit blockiert. In einen dauernden Spannungszustand zwischen Schuldvorwurf und offerierter Vergebung versetzt, ist es weder der Bundesrepublik noch der DDR, noch dem wiedervereinten Land jemals vergönnt gewesen, den „Seelenschatz“ des inneren Friedens zu gewinnen. Der zweite Dreißigjährige Krieg, der 1945 auf der militärischen Ebene endete, ging auf der psychologische Ebene in einen 100jährigen Krieg über und hat Massen von Narren produziert, die nach vorn und nach oben drängen.

Das erklärt die vielen irrationalen Entscheidungen, mit denen das Land sich permanent selbst beschädigt. Treffsicher hat die Schriftstellerin Monika Maron in ihrem Roman „Munin oder Chaos im Kopf“ die von wilder Migration gekennzeichnete Gegenwart mit Assoziationen an den Dreißigjährigen Krieg kurzgeschlossen („Leben in der Vorkriegszeit“, JF 17/18). Inzwischen dient Deutschland als Waffenkammer, als Ausbildungs- und Auffanglager sowie als Zahlmeister in einem Krieg in unmittelbarer Nachbarschaft, der nach Einschätzung von Nato-Generalsekretär Stoltenberg „viele, viele, viele, viele Jahre dauern kann“. Vollendet sich eine Zeitschleife?

Vielleicht wird man einst die zwei Romanhelden beneiden, obwohl es denen schlimm genug erging. Candide wird zur Armee gepreßt, absolviert einen Spießrutenlauf, entkommt knapp dem Erdbeben von Lissabon, der Inquisition und dem Scheiterhaufen, fällt unter die Kannibalen – ihm bleibt wahrlich nichts erspart. Wieder zu Hause, wird er zur Ehe mit einer potthäßlichen Frau gezwungen, „aber sie verstand es ausgezeichnet, Kuchen zu backen“. Der kulinarische Genuß ist für Dr. Pangloss der Beweis, daß in der Welt tatsächlich alles „aufs beste bestellt“ ist, worauf Candide erstaunlich lebensklug antwortet: „Sehr richtig, aber wir müssen unseren Garten bestellen.“

Der Simplicissimus hat zum Schluß der Welt gänzlich entsagt. Holländische Seefahrer machen den Einsiedler auf St. Helena ausfindig, von wo ihn niemand – „wanngleich wir 100.000 Mann stark gewes wärt“ – mehr fortbringen kann. Denn es ist der beste Ort der Welt, wo „der Teutsche selbst die ganze Zeit, so er daselbst gewesen, von Krankheit nichts gewahr worden“. 

So geht es nur in Romanen zu. Die Welt kennt keine Gartenlaube, wo ein Volk  ungestört den Kuchen verzehrt, und keine Einsiedelei, wo die Zeitläufte es in Ruhe lassen. In der Politik sind tumbe Weltfremdheit und das Schönreden und Verdrängen der Lage mitunter tödlich.

Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen: Der abenteuerliche Simplicissimus. S. Fischer, Frankfurt am Main 2009, broschiert, 656 Seiten, 11,50 Euro