Nach der abrupten Rücktrittsankündigung Nicola Sturgeons erscheint die schottische Unabhängigkeitsbewegung tief erschüttert. „An alle Menschen in Schottland – ob ihr mich gewählt habt oder nicht – bitte wißt, daß es das Privileg meines Lebens war, euer Erster Minister zu sein. Nichts – absolut nichts – das ich in Zukunft tue, wird dem jemals näher kommen. Ich danke euch von ganzem Herzen“, erklärte die 52jährige überraschend.
Bis Ende März müssen die Mitglieder der Scottish National Party (SNP) nun eine neue Führung suchen. Doch die links-grün und woke angehauchte Partei, die die Unabhängigkeit des Fünf-Millionen-Landes anstrebt, wirkt schwer verunsichert. Die in den High- und Lowlands vertraulich „Nicola“ genannte Erste Ministerin war so etwas wie die Übermutter des Landes. Sie verstand es, wie die von ihr verehrte Angela Merkel, fast präsidial über den Parteien zu schweben.
Allerdings machte sie dann immer mehr Fehler, und ihre Popularität sank. Laut einer Umfrage Anfang Februar wünschten mehr als 40 Prozent der Schotten ihren sofortigen Rücktritt, nur wenig mehr wollten an ihr festhalten. Es gibt mehrere Gründe für den Niedergang: Zum einen rumort es in der SNP, weil Sturgeons Strategie nicht aufzugehen schien, die nächste britische Unterhauswahl 2024 zu einem neuen Unabhängigkeitsreferendum zu erklären. Ein Wahlergebnis unter 50 Prozent würde die Unabhängigkeitsbewegung schwer beschädigen. Laut aktuellen Umfragen lehnt eine Mehrheit die Abspaltung Schottlands derzeit ab.
Für den Absturz in den vergangenen Wochen hat Sturgeon vor allem aber mit ihrem Transgender-Gesetz gesorgt. Das umstrittene Gesetz soll Menschen ab 16 Jahren eine einfache Änderung ihres Geschlechtseintrags ohne medizinische Diagnose erlauben. Es stieß aber nicht nur auf die Ablehnung der Mehrheit der Schotten, sondern auch auf ein Veto aus London. Vollends eskalierte der Streit nach dem Fall des Transgender-Vergewaltigers Isla Bryson alias Adam Graham, der nach seiner Verurteilung in einem Frauengefängnis inhaftiert wurde. Ex-Ministerpräsident Alex Salmond, Sturgeons Vorgänger, der die SNP verlassen hat, befand, Sturgeon habe mit dem Trans-Selbstidentifikationsgesetz eine „bekloppte Ideologie“ importiert.
Der Karren der Unabhängigkeit steckt erst einmal fest
Der Streit zeigt auch einen Generationenkonflikt in der SNP: Sturgeon hatte auf die junge, links-woke Generation gesetzt; die älteren Kämpfer für Schottlands Unabhängigkeit, darunter viele markige Männer alten Schlags, können damit wenig anfangen. Manche hat der Woke-Kurs wahnsinnig gemacht. Wochenlang dominierte das Transgesetz die Schlagzeilen. Zusätzlich kamen dann auch vermehrt Fragen nach einem schwelenden Finanzskandal auf, bei dem Sturgeons Ehemann Peter Murrell, der SNP-Geschäftsführer ist, der Partei ein ominöses Darlehen gegeben hatte, das der Wahlkommission gegenüber verschwiegen wurde.
Aus Sicht ihrer Gegner ist der Heiligenschein für „Nicola“, den ihr ergebene Medien hochhalten, völlig unangebracht. Während der Pandemie verehrten sie Sturgeon als die vorsichtige Corona-Politikerin, die im Gegensatz zum chaotischen Boris Johnson vorausschauend agierte und länger an Lockdowns festhielt. Doch unterm Strich fuhr Schottland nicht besser. Auch in vielen anderen Bereichen steht es nicht besser da als England. Es gibt mehr Drogentote als in irgendeinem Land Europas, das Gesundheitssystem NHS Scotland ist mindestens so angespannt wie der NHS England. Und auch die sinkende Qualität im Bildungswesen geht auf das Konto von Nicola Sturgeon.
Für ihre Nachfolge sind nun mehrere Namen im Gespräch. Am beliebtesten in der Bevölkerung ist die schottische Finanzministern Kate Forbes, die gerade im Mutterschaftsurlaub weilt. Die erst 32jährige, als klug gepriesene Politikerin wäre ein Kontrast zu den Woke-Aktivisten. Forbes, deren Eltern als christliche Missionare Indien bereisten, gehört nämlich einer Freikirche an, die Abtreibung und Homo-Ehe ablehnt. Von dem Transgender-Gesetz war sie nicht begeistert. Der bekennenden Christin könnte damit Gegenwind drohen. Weitere Kandidaten sind Sturgeons Vize John Swinney und Angus Robertson, der SNP-Fraktionsvorsitzende in Westminster, die in Umfragen hinter Forbes liegen. Ebenfalls kandidieren will wohl Humza Yousaf, der erste Muslim in der SNP-Führung, der als früherer Justizminister für ein „Anti-Hate-Speech“-Gesetz verantwortlich ist, das Kritikern als massiven Eingriff in die Meinungs- und Redefreiheit ansehen.
Wen auch immer die Parteimitglieder in der zweiten Märzhälfte zum nächsten Ministerpräsidenten wählen, er oder sie wird es bei einem Neustart schwer haben, denn der Karren des Unabhängigkeitsprojekts steckt jetzt erst mal fest.