© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 09/23 / 24. Februar 2023

Lieber keine Waffen liefern
Ukraine-Krieg: Brasilien, Argentinien und Kolumbien versperren sich dem westlichen Weg
Ralph Meese

In den Augen der nichtwestlichen Welt ist Moskau nicht sonderlich diskreditiert. Die Handelsbeziehungen zu Rußland abzubrechen werde dort nicht einmal diskutiert, so der bulgarische Osteuropaexperte Iwan Krastew im Stern-Interview. Denn der größte Teil der Weltbevölkerung lebt in Staaten, die mit Blick auf den Ukraine-Krieg eher Rußland zugeneigt sind oder sich neutral verhalten, keinesfalls aber in einen sich anbahnenden neuen Konflikt hineingezogen werden wollen, nicht einmal wenn sie durch die Lieferung von Kriegsgütern prächtig verdienen könnten.

Bundeskanzler Olaf Scholz bekam das deutlich zu spüren, als er in Brasilien Präsident Luiz Inácio Lula da Silva um Panzer-Munition bat, was schon dessen Vorgänger Jair Messias Bolsonaro im April abgelehnt hatte – das Land besitzt seit 2013 35 Gepard, und Krauss-Maffei Wegmann betreibt hier ein Instandsetzungswerk für Gepard- und Leopard-1-Panzer. 

Statt die gewünschten bis zu 300.000 Granaten für die in der Ukraine eingesetzten deutschen Flugabwehrpanzer zu erhalten, wurde der Sozialdemokrat eingeladen, sich an einer Friedensinitiative südamerikanischer Staaten zu beteiligen: „Brasilien ist ein Land des Friedens, und deswegen will es keinerlei Beteiligung an diesem Krieg – auch nicht indirekt.“

Ähnliche Töne bekamen US-Vertreter zuvor aus Bogota zu hören, wo sie Kolumbiens Präsidenten Gustavo Petro überzeugen wollten, vorhandene russische Waffentechnik an die Ukraine zu liefern: „Wir sind auf niemandes Seite. Wir sind für den Frieden. Aus diesem Grund wird in diesem Konflikt keine einzige Einheit russischer Militärausrüstung eingesetzt, egal unter welchen Bedingungen sie sich auf unserem Territorium befindet.“

Insgesamt neun lateinamerikanische Länder hatte General Laura J. Richardson, Befehlshaberin des Südkommandos des US-Militärs (Southcom), angesprochen, damit diese aus Rußland stammende Waffen an die Ukraine abgeben. Dafür sollten sie militärische Ausrüstung aus den USA erhalten, was dankend abgelehnt wurde.

Für Scholz kam es in Brasilia noch schlimmer. Nicht nur, daß Lula bei seiner Meinung blieb, die er bereits im Mai gegenüber dem Time-Magazin geäußert hatte, daß „dieser Typ“, gemeint war Wolodymyr Selenskyi“, für den Krieg „genauso verantwortlich ist wie Putin“, sondern Lula warb auch für seinen „Club von Ländern, die den Frieden auf diesem Planeten“ schaffen wollen.

Daß sowohl die Ukraine als auch der Westen wegen mangelnder Verhandlungsbereitschaft eine Mitschuld am Kriegsausbruch tüagen, dieser Überzeugung sind auch die Regierungschefs von Mexiko, Argentinien, Bolivien, Honduras. Mit einem von vielen Staaten Lateinamerikas unterstützten Friedensvorschlag war im September Mexikos Außenminister Marcelo Ebrard auf der UN-Vollversammlung an die Öffentlichkeit gegangen. Daß Selenskyis Vertraute die Idee, unverzüglich die Kampfhandlungen einzustellen und über den Papst, den UN-Generalsekretär sowie den indischen Ministerpräsidenten Narendra Modi direkte Gespräche zwischen Kiew und Moskau auszuhandeln, in deren Ergebnis es einen Waffenstillstand von fünf Jahren geben sollte, als „russischen Plan“ zurückwiesen, hat Mittel- und Südamerika brüskiert.

Warnungen vor einem „nuklearen Holocaust“

Zwar hat kein lateinamerikanischer Staat in der Uno gegen die Verurteilung Rußlands wegen seiner Invasionen in der Ukraine gestimmt, aber sie tragen auch nicht die Auffassung des Westens mit, „Rußland durch Sanktionen und Aufrüstung der ukrainischen Streitkräfte zu ‘besiegen’ oder gar zu ‘ruinieren’ und damit auf einen langen Krieg hinzuarbeiten“, heißt es in einem Beitrag in WeltTrends“. Staatschefs Lateinamerikas wie der argentinische Präsident Alberto Fernández fürchten die Ausweitung des Konflikts zu einem nuklearen Weltkrieg. Bereits jetzt müssen ihre Volkswirtschaften hohe Verluste hinnehmen, weil Hauptexporte wie in Ecuador, Argentinien und Uruguay zum Erliegen gekommen sind oder der Düngemittelimport in Brasilien, Argentinien und Mexiko zusammengebrochen ist und somit den Außenhandelsvorteil der Getreideproduktion zunichte machten.

Daß nicht alle Staaten Rußland nach seinem Einmarsch in die Ostukraine sofort verurteilten, sei weder auf eine prorussische Stimmung zurückzuführen, auch keine rußlandfreundliche Neutralität, wie sie China betreibe, sondern es handele sich  „eher um eine Art antiwestlicher Mentalität“, konstatiert gegenüber der Deutschen Welle Liana Fix vom Council on Foreign Relations in Washington. Dies wird insbesondere bei den südamerikanischen Linken deutlich, die daran erinnern, daß Rußland bei präventiven Angriffen einem ähnlichen „Drehbuch“ wie die USA folgten.

Nicht nur die sozialistischen Regierungen in Kuba, Venezuela und Nicaragua machen die Nato-Erweiterung und die Einmischung der USA für den Krieg in der Ukraine verantwortlich, auch die Linke insgesamt: „Der Konflikt zwischen Rußland und der Ukraine ist tragischerweise eine Folge dessen, was die USA und die Nato in Syrien, im Irak, im Iran, in Libyen, in Palästina, im Jemen, in der Westsahara und auf der ganzen Welt mit direkten und indirekten militärischen Interventionen und mit einem internationalen System tun, das in der Krise nicht in der Lage ist, das Völkerrecht zu verteidigen“, zitiert die Internetplattform „Amerika 21“ aus einem Papier der Arbeitsgruppe Foro de São Paulo (FPO), einer 1990 gegründeten Denkfabrik, die Positionen von mehr als 120 politische Parteien und Bewegungen bündelt.

Gefordert wird eine politische und diplomatische Lösung der Konflikte, „die alle Prinzipien des Völkerrechts respektieren und allen Arten von Militäraktionen, Sanktionen, Blockaden, Wirtschaftsstrafen und kolonialistischen Besetzungen, die schließlich zur Gefangenschaft der Völker führen, ein Ende setzen“. Wie der argentinische Präsident warnt auchdie FPO vor einem „nuklearen Holocaust“, der den Völkern drohe, wenn die USA und die Nato nicht ihre militärische Strategie beendeten.

Genaugenommen, schreibt der Historiker Valter Pomar, Professor für Internationale Beziehungen an der Universidade Federal do ABC und Mitglied des Nationalen Vorstandes der brasilianischen Arbeiterpartei (PT), im Foro de São Paulo, „findet der Krieg weder zwischen Rußland und der Ukraine noch zwischen Rußland und der Nato statt, sondern zwischen den Vereinigten Staaten und China.“