Hauptmann Askolt streicht sich den Schnee von der Schulter. „Wir kämpfen nicht gegen die Ukraine, sondern gegen Amerika, die Nato und ihre vielen Waffen“, sagt er, während er seine Kalaschnikow in die Hand nimmt. Er ist 43 Jahre alt, fast zwei Meter groß und hat einen großen roten Aufnäher mit Hammer und Sichel auf seine grüne Militäruniform genäht. „Zu Zeiten der Sowjetunion waren die Amerikaner der Feind. Daran hat sich nichts geändert. Sie sind es auch heute noch.“
Um ihn herum sind die Bäume in dem Wald, in dem er kämpft, sehr dicht, die hohen Stämme stehen dicht beieinander, so daß es schwierig ist, den Feind in der Ferne zu erkennen. Der Himmel ist grau, der Wind heult. Vor allem aber vergeht keine Minute, in der man nicht die Explosionen von Bomben, das Pfeifen von Raketen und das Mündungsfeuer von Kalaschnikows hört.
„Die Ukrainer sind ganz in der Nähe“, erzählt er uns, „weniger als einen Kilometer von hier. Sie leben wie wir in den Schützengräben. Wir sehen sie, wir hören sie.“ Der Vormarsch auf ihre Stellungen ist schwierig. Der Boden ist mit Minen übersät, die von den sich zurückziehenden Ukrainern zurückgelassen wurden, und der Schnee liegt über einen Meter hoch.
Dennoch rückt Askolt mit Zuversicht vor. Hier und da stößt er auf frierende Soldaten, die in Gräben im Schlamm und Schnee postiert sind. Einige tragen lange Scharfschützengewehre, andere schwere Maschinengewehre aus Sowjetzeiten. Am Himmel hört man das Summen ukrainischer Drohnen, die den Feind beobachten und mit Präzisionswaffen bombardieren, die den Moskauer Truppen oft fehlen.
Moskaus Kriegsziel bleibt die Besetzung des Donbass
Alle russischen Soldaten sind sich einig, daß die ukrainischen Truppen technologisch besser ausgerüstet sind als sie. Während Kiew seine Armee seit 2014 mit dem Geld und der Unterstützung mehrerer westlicher Länder aufrüstet und ausbildet, hat Rußland nicht damit gerechnet, daß es den heutigen zermürbenden Stellungskrieg in Schlamm und Schnee in der gefürchteten Rasputiza-Periode führen würde.
In der Tat hätte Moskau am 24. Februar 2022 schnell auf Kiew marschieren, Selenskyj absetzen und eine rußlandnahe und Nato-ferne Regierung einsetzen wollen. Nach den ersten Wochen der bewaffneten Auseinandersetzungen wurde den russischen Soldaten am Rande der Hauptstadt klar, daß die Ukraine nicht zusammenbrechen würde, und sie mußten sich auf die Gebiete zurückziehen, die ihnen inzwischen in die Hände gefallen waren, das heißt vor allem auf den Donbass und die Südukraine.
Mit diesem Rückzug begann die zweite Phase, ein schwerer Stellungskrieg, der zur Eroberung des gesamten Donbass und der Südukraine führen sollte und bis nach Odessa und schließlich nach Transnistrien, der überwiegend von russischsprachigen und russischstämmigen Bürgern bewohnten Region der Republik Moldau, reichte. Sie scheiterte schließlich, als Putins Soldaten Ende November die Stadt Cherson aufgaben und damit deutlich machten, daß sie nicht mehr weiter vorrücken können.
Seitdem sind wir in die dritte und aktuelle Phase des Krieges eingetreten, in der sich die Russen in der Südukraine gegen ukrainische Gegenangriffe verteidigen und, wenn auch langsam, in den Donbass vorrücken. Das Ziel ist die Eroberung dieser gesamten Region, der russophilsten der Ukraine.
Die Truppen von Askolt kämpfen in den Wäldern entlang der Grenze zwischen den Regionen< Lugansk und Charkiw im Donbass. Ihr Ziel ist es, die ukrainischen Soldaten zurückzudrängen, die wie sie in den verschneiten, schlammigen Waldgräben leben und kämpfen. Tatsächlich wollen die Russen bis zur Grenze der Region Donezk vordringen und sich dort den Söldnern der Wagner-Gruppe anschließen, die die Stadt Bahmut bestürmen.
Russische Truppen bedrückt die technische Überlegenheit Kiews
Es handelt sich um eine sehr komplexe Militäroperation, deren Ziel es ist, die Kiewer Truppen von der Stadt Donezk zu vertreiben, die einige Dutzend Kilometer weiter südlich liegt. Obwohl Donezk das wichtigste städtische Zentrum im Donbass ist, ist es von der Kiewer Armee halb umzingelt. Dies ist bereits seit 2014 der Fall.
In den vergangenen zwölf Monaten haben die Russen wiederholt Angriffe von der Stadt aus gestartet, um den Feind zu vertreiben, was ihnen nie gelang, und dabei schwere Verluste erlitten. Als sie erkannten, daß sie die Front nicht durchbrechen konnten, beschlossen sie zu versuchen, die ukrainisch kontrollierten Dörfer am Stadtrand von der Versorgung abzuschneiden. Bahmut ist nämlich einer der wichtigsten Transitpunkte für die Ankunft von Waffen und Männern aus Kiew.
Der Winter ist keine günstige Jahreszeit für Vorstöße. Die Kälte und der hohe Schnee machen die Bewegungen schwer und langsam, aber die Kreml-Soldaten können nicht auf den Frühling warten. „Wir erwarten, daß die Ukraine viele neue Waffen aus dem Westen erhält“, sagt ein Militäranalyst der Wagner-Gruppe. „Heute kommen deutsche Leoparden an, morgen können wir nicht ausschließen, daß auch Kampfflugzeuge oder Nato-Truppen eintreffen werden.“ Die Russen wollen also die momentane Schwäche der ukrainischen Armee ausnutzen, um ihr so viel Territorium wie möglich zu entreißen.
Vom Konflikt zum Krieg
18. März 2014. Rußland annektiert mit Hilfe von etwa 25.000 Soldaten und einem Referendum die Halbinsel Krim, nachdem die Ukraine ihre prorussische Regierung unter Wiktor Janukowitsch beim „Euromaidan“ gestürzt hatte.
Ebenfalls im März 2014 beginnen erste Gefechte zwischen prorussischen Milizen und ukrainischen Truppen im Donbass, der mehrheitlich russischsprachigen Industrieregion im Osten der Ukraine.
Im April 2014 rufen die Volkrepubliken Donezk und Luganks ihre Unabhängigkeit von der Ukraine aus.
Im August 2014 überqueren russische Streitkräfte unter offiziellen Hoheitszeichen die Grenze in den Donbass.
5. September 2014. In Minsk beschließen Kiew und Moskau erstmals eine Waffenruhe, die bald wieder gebrochen werden sollte. Weitere werden folgen.
21. April 2019. Wolodymyr Selenskyj wird zum Präsidenten der Ukraine gewählt.
21. Februar 2022. Der russische Präsident Wladimir Putin erkennt die Volksrepubliken Donezk und Lugansk an.
23. Februar 2022. Die EU beschließt Sanktionen gegen Rußland, Weißrußland und wichtige Politiker und Oligarchen.
24. Februar 2022. Russische Truppen rücken in die Ukraine vor. Auch von weißrussischem Gebiet wird ein Angriffsschlag gegen die Hauptstadt Kiew ausgeführt. Parallel läuft eine Luftlandeoperation auf dem Flughafen Kiew-Hostomel an.
Ende Februar 2022 beginnt die westliche Welt ihre Waffenlieferungen in die Ukraine massiv aufzustocken.
Von Februar bis April 2022 können russische Truppen überall entlang der Grenze einen im Schnitt 200 Kilometer breiten Streifen ukrainischen Territoriums besetzen.
2. März 2022. Russische Truppen haben die Hafenstadt Cherson besetzt. Ebenso melden internationale Beobachter die Einnahme des Kernkraftwerks Saporischschja. Putin wird das 6-Gigawatt-Kraftwerk später zu russischem Staatseigentum erklären.
29. März 2022. Rußland zieht seine Truppen um Kiew zurück.
2. April 2022. Erste Bilder ermordeter Zivilisten in der Kiewer Vorstadt Butscha werden veröffentlicht.
14. April 2022. Ukrainische Soldaten versenken das Flaggschiff der russischen Schwarzmeerflotte „Moskwa“.
14. Mai 2022. Rußland besetzt die Millionenstadt Charkiw, kurz darauf kapituliert die Hafenstadt Mariupol. Mit ihr kann Putin die Landverbindung zur Krim vervollständigen.
Im Juni 2022 kann die ukrainische Armee im Raum Cherson erste Erfolge bei Gegenoffensiven feiern.
Im September 2022 beginnen Kiews Truppen eine Gegenoffensive in der Region Charkiw.
26. September 2022. In der Ostsee werden drei der vier Stränge der Nordstream-Pipelines durch Explosionen zerstört. Die teils stillgelegte und teils nicht eröffnete Pipeline versorgte Deutschland mit russischem Erdgas und war eine bedeutende Einnahmequelle für Moskau.
30. September 2022. Rußland annektiert die Volksrepubliken Donezk und Lugansk nach einem Referendum, das international nicht anerkannt wird.
8. Oktober 2022. Spezialeinheiten der Ukraine zerstören Teile der für die Versorgung bedeutenden Krim-Brücke, ein Prestige-Projekt Putins nach 2014.
Ende Oktober beginnt Rußland eine Offensive gegen die ukrainische Infrastruktur landesweit. Dabei kommen Lenkflugkörper und auch iranische Drohnen zum Einsatz.
11. November 2022. Ukrainische Truppen befreien das Gebiet westlich des Dnjepr inklusive des Großteils der Hafenstadt Cherson.
Januar/Februar 2023. Russische Streitkräfte fliegen Luftangriffe auf die zivile Infrastruktur unter anderem in den Oblasten Donezk und Cherson, russische Offensive bei Bachmut.
Fotos: Ein tschetschenischer Soldat in der Region Cherson: Frische Rekruten hat Moskau im Herbst und Winter an die Front gebracht. Eine Offensive wird erwartet; Frische Gräber russischer Soldaten in der Region Lugansk: Laut westlichen Quellen sind bis zu 200.000 Menschen auf russischer Seite getötet oder vermißt; Familie aus der russisch besetzten Region Lugansk: Nicht alle ethnischen Russen heißen die neue Herrschaft aus Moskau gut