© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 09/23 / 24. Februar 2023

Bum Bum – dank Boris
Verteidigung: Die von Bundeskanzler Olaf Scholz vor einem Jahr ausgerufene Zeitenwende soll sein neuer Minister Pistorius endlich auch in der Bundeswehr praktisch umsetzen
Peter Möller

Für die Bundeswehr begann die Zeitenwende, die Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) vor einem Jahr unter dem Eindruck des Angriffs Rußlands auf die Ukraine im Bundestag ausgerufen hatte, am 19. Januar dieses Jahres, dem Tag des Amtsantritts von Boris Pistorius als Verteidigungsminister. Mit jedem Tag mehr, den der frühere niedersächsische Innenminister im Amt ist, wird deutlicher, wie sehr seine Vorgängerin Christine Lambrecht (SPD) dem von Scholz ausgegebenen Ziel, die Bundeswehr wieder verteidigungsfähig und zu einer der schlagkräftigsten Armeen in Europa zu machen, im Weg stand. 

Pistorius dagegen, der seine sozialdemokratischen Amtsvorgänger Helmut Schmidt und Peter Struck aufgrund ihrer pragmatischen Art als Vorbilder nennt, hat sich innerhalb kürzester Zeit in der Truppe wie auch über Parteigrenzen hinweg im politischen Berlin den Ruf eines zupackenden und führungsstarken Machers erworben. Ihm wird zugetraut, den tief im Morast aus inkompetenter politischer Führung und jahrzehntelanger Vernachlässigung festgefahrenen Karren Bundeswehr wieder flottzumachen. Darüber, daß er nach unzähligen Reformen und Sparrunden vor einer Herkulessaufgabe steht, um die Streitkräfte wieder voll einsatzfähig und damit kriegs- und verteidigungsfähig zu machen, gibt sich der 62jährige keinen Illusionen hin. 

Dafür nimmt er auch das mit 3.000 Mitarbeitern mehr als gut ausgestattete Verteidigungsministerium, das im Ruf steht, unführbar zu sein, fest in den Blick. „Wir werden uns auch die Strukturen des Ministeriums ansehen müssen. Es muß wieder eindeutige Verantwortlichkeiten mit klaren Abgrenzungen geben und keine Parallelstrukturen. Wir brauchen eine zentrale Stelle, die Entscheidungen steuert und koordiniert“, kündigte er im Spiegel an.

In der Panzerfrage den Spieß geschickt umgedreht

Eine weitere wichtige Baustelle ist die Zusammenarbeit mit der Rüstungsindustrie. Nach dem Ende des Kalten Krieges haben nicht nur die deutschen Waffenschmieden wie Rheinmetall und Krauss-Maffei Wegmann ihre Produktionskapazitäten teilweise drastisch reduziert. Wo früher Panzer in Serie gefertigt wurden, müssen die Streitkräfteplaner bei Neubestellungen mittlerweile eine Wartezeit von zwei bis drei Jahren einkalkulieren. „Wenn ich wüßte, ich kriege in einem Jahr alle meine Leos ersetzt, könnte ich großzügiger sein mit der Hilfe für die Ukraine“, verdeutlichte Pistorius das Problem. 

Die Industrie hat sich inzwischen bereit erklärt, ihre Kapazitäten wieder deutlich zu erhöhen, doch hierfür sind verbindliche und langfristige Aufträge der Bundeswehr nötig. Und daran hapert es nicht nur aufgrund des ineffektiven Beschaffungswesens immer noch. So wurde nach dem Abgang Lambrechts bekannt, daß für das bisher von der Truppe an die Ukraine abgegebene Material, darunter 14 Panzerhaubitzen 2000, 40 Schützenpanzer Marder, fünf Mehrfachraketenwerfer und Flugabwehrsysteme, bislang bei der Industrie kein Ersatz bestellt wurde. Schlimmer noch: Nach einem Bericht der FAZ wurde sogar weitgehend versäumt, hierfür auf ministerieller Ebene überhaupt Anfragen zur Refinanzierung aus Haushaltsmitteln des Finanzministeriums zu beantragen – die Voraussetzung, um überhaupt einen Vertrag mit der Industrie unterzeichnen zu können.

Einen Schritt weiter ist das Ministerium dagegen bei der dringend notwendigen Nachbestellung von Munition. In der vergangenen Woche wurde bekannt, daß Rheinmetall einen Auftrag über einen dreistelligen Millionen-Euro- Betrag zur Lieferung von 300.000 Patronen des Kalibers 35 Millimeter für den an die Ukraine gelieferten Flakpanzer Gepard erhalten hat. Bereits Ende Januar hatte der Rüstungskonzern angekündigt, seine Produktionskapazitäten deutlich auszuweiten, unter anderem durch ein neues Werk in Ungarn. Vor kurzem hatte der Konzern zudem bekanntgegeben, den spanischen Munitionshersteller Expal zu übernehmen, um damit seine Herstellungskapazitäten für Munition mehr als zu verdoppeln. Das dürfte auch der Bundeswehr zugute kommen, deren Depots dringend aufgefüllt werden müssen, um den von der Nato vorgegebenen Mindestbestand zu erreichen. 

Doch es geht bei der von Scholz ausgerufenen Zeitenwende nicht nur darum, der Bundeswehr wieder funktionsfähiges Material in ausreichender Zahl zur Verfügung zu stellen. Es geht auch darum, politisch vorausschauend zu agieren und sich nicht von den Ereignissen treiben zu lassen. Was das bedeutet, hat Pistorius in der Frage der Panzerlieferungen an die Ukraine gezeigt. Über Wochen hat Deutschland angesichts der vor allem von Polen unterstützten Forderungen der Ukraine nach deutschen Leopard-2-Panzern mehr als ungeschickt agiert. Anfang des Jahres herrschte schließlich der Eindruck vor, die Lieferung einer nicht unerheblichen Zahl modernen Kampfpanzer scheitere an der deutschen Blockadehaltung. Dem neuen Verteidigungsminister gelang es indes durch geschickte Kommunikation, Deutschland in dieser Frage wieder in die Offensive zu bringen. Durch die Ankündigung, aus Beständen der Bundeswehr 14 moderne Leopard-Panzer vom Typ A6 zu liefern, übernahm die Bundesregierung in der Panzerfrage die Führung. Schnell zeigte sich, daß die Ankündigungen anderer Leopard-Staaten, wie etwa Polens, nicht so belastbar waren, wie zuvor angenommen.

Fast schon genüßlich machte Pistorius nach dem Treffen der Nato-Verteidigungsminister in der vergangenen Woche in Brüssel auf die schleppenden Zusagen aus anderen Ländern aufmerksam. So gibt es laut Pistorius bislang unter anderem aus Portugal die Ankündigung, drei Leopard 2 A6 zu liefern. Norwegen will der Ukraine acht Leopard-2-Kampfpanzer liefern. Hinzu kommen bis zu vier Begleitfahrzeuge sowie Mittel für Munition und Ersatzteile, wie die norwegische Regierung mitteilte. Ausgerechnet bei den 14 von Polen angekündigten Leoparden vom älteren Typ Leopard 2A4 gibt es dagegen Zweifel am Zustand und der Einsatzfähigkeit. Bei der Frage, ob er Verständnis für Länder habe, die erst wahnsinnig Druck gemacht hätten, Panzer zu liefern und jetzt Lieferprobleme hätten, wurde der deutsche Ressortchef laut „tagesschau.de“ deutlich: „Da ich mich hier auf diplomatischem Parkett bewege, würde ich sagen: wenig.“

Pistorius baut bei seinem Vorhaben auf den Rückhalt von Bundeskanzler Scholz, der ihn ins Amt geholt habe, um die Zeitenwende bei der Bundeswehr endlich umzusetzen. „Er sieht, daß die Bundeswehr nicht so dasteht, wie sie dastehen könnte und müßte. Und er will jemanden haben, der das ändert“, sagte der Verteidigungsminister mit Blick auf Scholz. Doch der Neue wird schnell merken, daß die Unterstützung durch den Kanzler noch lange nicht bedeutet, auch die eigene Partei auf seiner Seite zu haben. 

Das machte am Wochenende die Reaktion der SPD-Chefin Saskia Esken auf die Forderung von Pistorius nach einer Erhöhung des Verteidigungsetats deutlich. Seiner Ansicht nach benötigt die Bundeswehr zusätzlich zum „Sondervermögen“ in Höhe von 100 Milliarden Euro für den Haushalt 2024 und die Etats der Folgejahre weitere zehn Milliarden Euro – zumal das Sondervermögen durch Inflation und Zinsen aufgezehrt wird. „Zehn Milliarden Euro sind eine Menge Geld. Gleichzeitig besteht der Koalitionspartner FDP darauf, daß wir zur Schuldenbremse und zur Haushaltskonsolidierung zurückkehren“, sagte Esken der FAZ und riet ihrem Genossen dazu, erst einmal die hundert Milliarden auszugeben und das schwerfällige Beschaffungswesen zu reformieren: „Dann sprechen wir weiter.“

Es deutet daher vieles darauf hin, daß Boris Pistorius den härtesten Kampf um die Zeitenwende bei der Bundeswehr nicht mit den Beharrungskräften in seinem Ministerium ausfechten muß, sondern mit seinen eigenen Parteifreunden. 





Vorsichtig und besorgt

Zu zögerlich im Hinblick auf Waffenlieferungen an die Ukraine sei der Bundeskanzler, werfen ihm Kritiker vor. Die Stimmung hierzulande trifft das nicht, hier teilen offenbar viele die Haltung von Olaf Scholz. Das ergibt sich aus einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Allensbach für die FAZ. So stimmten 49 Prozent der Befragten der Aussage zu: „Wenn Deutschland und die anderen westlichen Länder die Unterstützung für die Ukraine ausweiten und noch mehr Waffen liefern, wird Rußland das als Provokation begreifen und den Krieg noch weiter eskalieren, vielleicht sogar mit Atomwaffen. Daher sollten wir uns mit Unterstützung zurückhalten, um die Situation nicht zu verschlimmern.“ Für mehr Waffenlieferungen sprachen sich 33 Prozent aus. Daß die Ukraine ihren Widerstand gegen die russische Invasion einstellen soll, meinten 24 Prozent, 45 Prozent widersprachen. Hier besteht allerdings eine große West-Ost-Differenz. Während in Westdeutschland nur 20 Prozent der Aussage zustimmten, die Ukraine solle kapitulieren, war es im Osten mit 41 Prozent die relative Mehrheit. Unterdessen nehmen laut dem Umfrageindex der Münchner Sicherheitskonferenz (Munich Security Index) die Deutschen inzwischen Rußland als größte Sicherheitsbedrohung wahr. Im Jahr vor der Invasion in der Ukraine rangierte es noch auf Platz 18. An zweiter Stelle der Bedrohungsängste liegt in Deutschland die Masseneinwanderung, der Klimawandel rutschte auf Platz 8. (vo)