Wir wollten wissen:
Wie lange dauert der Konflikt noch an?
Wie wird der Krieg ausgehen?
bis zu einem Jahr
Verhandlungsfrieden zugunsten Rußlands
Verlauf hängt von Washington ab
Für eine auch nur halbwegs treffsichere Prognose des Kriegsausgangs ist die Zeit nicht reif. Von beiden Seiten werden Frühjahrsoffensiven erwartet. Der weißrussische Präsident Alexander Lukaschenko hat zudem die Möglichkeit einer neuen Offensive im Norden ins Spiel gebracht. Und überhaupt: Wir wissen nicht, ob die Kriegsparteien zu wirklich raumgreifenden Attacken noch in der Lage sind. Mindestens ebenso wahrscheinlich ist ein tief gestaffelter Stellungskrieg, ähnlich der Westfront ab 1915.
Verhandlungen einzufordern erscheint derzeit sinnlos. Bei ihren Zielen pokern die Kriegsparteien hoch. Rußland hat vier ukrainische Gebiete annektiert, obwohl sie nur teilweise in russischer Hand sind. Wie will Putin dahinter zurück? Die Ukraine ihrerseits will nicht nur die östlichen Landesteile befreien, sondern auch die 2014 verlorene Krim zurückerobern. In solcher Lage muß man davon ausgehen, daß beide Seiten vorerst auf militärische Erfolge setzen. Verhandlungen machen dann Sinn, wenn die Kontrahenten so geschwächt sind, daß beide lieber einen Kompromiß suchen als den Krieg fortzusetzen. Das ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht der Fall.
Im übrigen hängt der weitere Verlauf maßgeblich von Washington ab. Die US-Administration ist gespalten. Eine Fraktion will das russische Störpotential nachhaltig und dauerhaft ausschalten, notfalls in einem jahrelangen Krieg. Eine andere strebt einen Verhandlungsfrieden oder wenigstens Waffenstillstand an, um sich ganz auf den pazifischen Raum zu konzentrieren. Letztlich fällt die Entscheidung über eine allseits gesichtswahrende Lösung zwischen Washington und Moskau. Die Ukraine wird das Ergebnis akzeptieren müssen, und die Europäer sind nur Komparsen.
Von größter Bedeutung bleibt das Eskalationspotential Richtung Nato. Rußland wird nicht mit Landstreitkräften in Polen einmarschieren; wer das behauptet, ist Ignorant oder Propagandist. Das Risiko liegt im defensiven Einsatz taktischer Nuklearwaffen, etwa bei einer absehbar erfolgreichen Rückeroberung der Krim durch das ukrainische Militär. Einen solchen Schritt würde der Westen mit einem konventionellen Zerstörungsakt beantworten, etwa der Vernichtung der russischen Schwarzmeerflotte. So wurde es den Russen kommuniziert. Ob diese Drohung Putin davon abhalten wird, im Fall der Fälle zur atomaren Notbremse zu greifen? Die Selbstgewißheit, mit der einige deutsche Journalisten und Politiker dieses Szenario leugnen, jagt dem Kenner der russischen Befindlichkeiten Schauer über den Rücken. Einem geschwächten Rußland wäre wohl zuzutrauen, daß es ohne Eskalation die Ostukraine räumt. Für die Krim gilt das nicht. Da geht Putin bis zum Äußersten. Die Folgen wären unabsehbar.
Dr. Thomas Fasbender lebte ein Vierteljahrhundert in Rußland. Als Kenner des Landes veröffentlichte der Publizist den Titel „Freiheit statt Demokratie. Rußlands Weg und die Illusionen des Westens“.
hierzu keine Angabe
Verhandlungsfrieden zugunsten Rußlands
Das Risiko eines Atomkriegs bleibt
Erwartungen sollten auf Theorien beruhen. Meine sind von der realistischen Schule der Weltpolitik und der amerikanischen Abschreckungsliteratur aus der Zeit des Kalten Krieges inspiriert. Theorien sagen um so mehr, je mehr sie verbieten. Meine verbieten, daß die hoch gerüstete Atommacht Rußland den Krieg gegen die nicht nuklear gerüstete Ukraine verliert. Zwar haben Atommächte Kriege verloren, wie die USA in Vietnam oder Rußland und die USA nacheinander in Afghanistan. Aber der Krieg in der Ukraine ist für Rußland etwas anderes. Das ist kein Krieg, den man durch Abzug einfach beenden kann. In der Ukraine geht es um das Selbstbild Russlands, auch um seine Position als Großmacht.
Kiew gilt als Mutter der russischen Städte! Falls die Ukraine auf dem konventionellen Schlachtfeld zu oft siegt, ihr etwa die Rückeroberung der Krim gelingt, droht der Einsatz russischer Atomwaffen in der Ukraine. Das wäre ein großer Schritt zum allgemeinen Atomkrieg. Wenn der Westen danach seine Unterstützung der Ukraine weiter verstärkt, wird sich der nukleare Schlagabtausch zwischen Rußland und dem Westen kaum vermeiden lassen. Mit unserer Unterstützung der Ukraine durch Waffen und Geld bereiten wir entweder nur das Verbluten der Ukrainer und Russen auf den Schlachtfeldern vor oder zusätzlich unseren eigenen Atomtod. Merkwürdigerweise sind unsere Politiker und die Öffentlichkeit dabei angstfrei.
Während des Kalten Krieges waren wir schon mal klüger und risikobewußter. Wir wußten, daß ein ‚roll back’ militärisch im Atomzeitalter nicht machbar ist. Wir haben einen Eisernen Vorhang westlich von Magdeburg und Eisenach ertragen. Jetzt wollen wir Rußland von den Ukrainern fast bis zum Don zurücktreiben lassen. Das wird nicht gut gehen, auch wenn nur die EU- und nicht die Nato-Grenze soweit vorgeschoben werden soll.
Falls Europa, die Ukraine und Rußland diesen Krieg ohne nukleare Eskalation überleben, ist das geopolitische Resultat klar. Durch die Wirtschaftssanktionen gegen Rußland treibt der Westen das Land in die Arme Chinas. Chinas Bevölkerung und Wirtschaftskraft hat ungefähr das zehnfache Gewicht der russischen. Nur bei der atomaren Rüstung liegt Rußland noch weit vor China. Das wird sich ändern, weil China gegen die USA aufrüstet und nebenbei Rußland zumindest einholen wird. Dann wird die chinesische Einflußsphäre bis Petersburg und Königsberg reichen.
Das Schicksal der Ukraine wird schrecklich sein: Noch viele Tote und Verstümmelte, Gebietsverluste im Osten, ein zerstörtes Land, eine ruinierte Volkswirtschaft. Wenn man auf Wunschdenken verzichtet, wird die Ukraine irgendwann eine Waffenstillstandslinie günstigstenfalls in der Nähe des jetzigen Frontverlaufs akzeptieren müssen oder noch etwas ungünstiger den Verlust der vier Bezirke hinnehmen, die Rußland schon annektiert, aber noch nicht vollständig erobert hat. Der Anschluß der Rest-ukraine nicht nur an die Nato, sondern auch an die EU wird mit dem Atomkriegsrisiko verbunden bleiben.
Prof. Dr. Erich Weede ist emeritierter Professor für Soziologie an der Universität Bonn. Der habilitierte Politologe forschte unter anderem zu Kriegsursachen.
über fünf Jahre
keine Lösung
Es droht ein ewiger Dauerkonflikt
Ein Jahr nach Kriegsbeginn läßt sich weniger denn je sein mögliches Ende skizzieren. Versuchte die russische Seite im Februar 2022 eine Art Enthauptungsschlag gegen die Ukraine zu führen und sowohl die Hauptstadt einzunehmen wie auch die Regierung zu stürzen, haben sich die Dinge seitdem sowohl etwas beruhigt als auch verkompliziert. Beruhigt hat sich die Lage insofern, als sich die Kampfhandlungen derzeit weitgehend nach Osten verlagert haben. Rußland beschießt zwar weiterhin die Infrastruktur der gesamten Ukraine, hat sich aber aus Teilen des eroberten Gebietes zurückgezogen oder wurde zum Rückzug genötigt, je nachdem welcher Seite man mehr glauben will. In den vergangenen Monaten haben seitdem keine größeren Gebiete mehr den Besitzer gewechselt.
Man könnte aus dem jetzigen Frontverlauf eine Art russisches Angebot für einen auch vom Westen akzeptierten neuen Status quo herauslesen. Er sichert Rußland den ungehinderten Zugang zur Krim und die Kontrolle über Landesteile, die auch in freien Wahlen eher prorussisch gewählt haben. Das wird auch durch die Annexion dieser noch besetzten ukrainischen Gebiete bekräftigt, die seitdem von Moskau als Teil der Russischen Föderation betrachtet werden und über die nicht mehr verhandelt werden soll. Genau dies aber läßt die Lage zugleich kompliziert werden. Jede rechtliche Anerkennung dieser Eroberungen würde die nach 1945 lange international akzeptierte Grundregel verletzen, wonach keine weiteren gewaltsamen Grenzänderungen akzeptiert werden. Bekräftigt wurde dies zum Beispiel auch von beiden Seiten im russisch-deutschen Freundschaftsvertrag von 1991. Ausdrücklich versprochen wurde dies auch von Rußland selbst gegenüber der Ukraine.
Nun mag man mit Recht einwenden, daß auch der Westen seitdem dazu beigetragen hat, diese Grundregel zu schwächen. Etwa im willkürlich von Serbien abgespaltenen Kosovo. Gleichwohl wäre es ein neues Niveau, würde ein großes Land damit durchkommen, wenn es ein kleineres Nachbarland angreift und ihm einfach Teile seines Gebietes wegnimmt. Offensichtlich kann niemand garantieren, daß sich keine Nachahmer finden. Potentielle Konflikte gibt es weltweit genügend; ein internationales System, das in Richtung Anarchie treibt, würde sie befeuern. Auch Rußland könnte unter Berufung auf historische Rechte und die Ansprüche russischer Minderheiten an anderer Stelle erobernd tätig werden, etwa im Baltikum. Weiterhin stehen russische Truppen zudem in Gebieten, die völkerrechtlich zu Georgien gehören. Auch vor diesem Hintergrund führt kaum ein Weg daran vorbei, die Ukraine schon als allgemeines Warnsignal gut genug mit Waffen auszurüsten, um sich zu behaupten.
Eine wirkliche Friedensperspektive ist damit jedoch nicht in Sicht. Alles deutet vielmehr auf einen Dauerkonflikt hin, wie man ihn im Nahen Osten in der Palästinafrage, in Asien in Korea, im türkisch besetzten Teil Zyperns oder in Taiwan bereits seit Jahrzehnten hat. Mehr als einen Waffenstillstand und eine eingefrorene Situation wird auch im Ukraine-Konflikt kaum ein Verhandlungsführer erreichen. Dann würde immerhin nicht mehr geschossen und gestorben. Vielleicht muß man damit erst einmal zufrieden sein.
Dr. Stefan Scheil ist Publizist und Historiker. Er befaßte sich vor allem mit den Ursachen und dem Verlauf des Zweiten Weltkriegs.
über ein Jahr
diplomatische Lösung vergleichbar mit Situation vor Beginn des Krieges
Die globale Rechte wird gespalten
Ich gebe es nur ungern zu, aber ich habe seit langem recht pessimistische Ansichten über die westlichen Gesellschaften vertreten, und meine kurzfristigen Aussichten für den Westen wurden oft als recht düster bezeichnet. Aber ich sehe nun mal keine andere Zukunft für die reichen, industrialisierten Gesellschaften des Westens, wenn man die zunehmende ideologische Polarisierung, den wachsenden politischen Extremismus, den Niedergang des zivilen Diskurses und des Gemeinschaftsgeistes, den zunehmenden atomisierten Individualismus und Egoismus sowie einen krassen Materialismus, Korporatismus und Militarismus betrachtet, der keine Grenzen zu kennen scheint. Der andauernde Konflikt in der Ukraine ist ein gutes Beispiel für einige dieser Aspekte.
Meine Aussichten für diese unglückliche Situation umfassen zwei mögliche Ergebnisse: (a) daß der Westen mehr und mehr in den Konflikt hineingezogen wird – eine schrecklich gefährliche Aussicht, die aber immer wahrscheinlicher wird, je mehr militärische Unterstützung wir leisten; oder (b) daß der Westen schließlich aufgibt und Rußland erlaubt, die Ukraine einzunehmen, mit lauwarmen Zusicherungen, daß die Russen nichts mehr gegen andere unternehmen werden, was nicht sehr vertrauenerweckend ist. Daher ist der Versuch, auf Fragen wie „Wer wird den Krieg gewinnen?“ zu antworten, ein Irrweg, denn ich glaube nicht, daß es unabhängig vom Ergebnis Gewinner geben wird.
Wenn es nicht noch einen „Schwarzen Schwan“ gibt, wird dieser Konflikt so lange andauern, bis das ganze Land „in Schutt und Asche“ gelegt ist, was der Taktik der Russen entspricht: eben alles in Schutt und Asche zu legen. Das kann leicht ein weiteres Jahr dauern. Sie haben bereits jetzt die gesamte Energieinfrastruktur, zahlreiche Kraftwerke sowie viele Schulen und Krankenhäuser zerstört und sind damit auf dem besten Weg, dieses Ziel zu erreichen. Irgendwann müssen sich die westlichen Staats- und Regierungschefs fragen: „Ab welchem Punkt ist die Ukraine nicht mehr bewohnbar?“
Am Ende könnte meiner Meinung nach eine diplomatische Lösung stehen, die mit dem Status quo vor dem Krieg vergleichbar ist – allerdings begleitet von anderen Aspekten wie einem deutlich geschwächten und verletzlichen Westen (mit einem Großteil seines Waffenarsenals in der Ukraine), einem ermutigten und arroganten Rußland, moralisch empörten und schießwütigen westlichen liberal-demokratischen Führern und einer gespaltenen „globalen Rechten“. Dieser letzte Aspekt ist vielleicht derjenige, der mich am meisten frustriert, denn die sich vor dem Krieg abzeichnenden Allianzen unter und zwischen christlich-konservativen Führern sind nun zerbrochen. Vielleicht war dies von Anfang an eines der Ziele dieses Krieges.
Alvino-Mario Fantini leitet als Chefredakteur die Zeitschrift „The European Conservative”. Er ist Fellow am Russell Kirk Center für Kulturelle Erneuerung in den USA.
hierzu keine Angabe
hierzu keine Angabe
Rußland verliert am meisten
Im ersten Jahr des Krieges wurde bereits fast alles gesagt oder geschrieben. Was fehlt ist die aufrichtige und ehrliche Analyse der Lage, die nicht von dem Diktat der Politischen Korrektheit immunisiert ist. Einseitige Vorurteile, ideologisch motivierte Annahmen, Angst vor den möglichen Folgen nicht korrekter Antworten, schlechtes Gewissen – bei uns im Zusammenhang mit dem Jahr 1968 – blockieren die Suche nach der Wahrheit.
Wir befinden uns in einer Ära des hoch beschädigten öffentlichen Diskurses. Nur die Emeritierten, die nichts zu verlieren haben, haben eine gewisse Freiheit, offen zu sprechen. Es geht auch nicht immer um Angst. Oft möchte man „nur“ die bestehende Einheit und Ruhe in der eigenen Familie, im Freundeskreis, im Arbeitskollektiv nicht stören. Man wehrt sich, ein permanenter „Einheitsstörer“ zu sein.
Die JUNGE FREIHEIT wollte die Einschätzung der Situation von Experten, aber zu diesem Thema ist niemand ein Experte. Wir, diejenigen, die eine Antwort geben, sind nichts mehr als engagierte Menschen, die große Sorgen und Befürchtungen im Hinblick auf die heutigen Entwicklungen haben.
Wer wird also den Krieg gewinnen? Der Krieg findet in der Ukraine statt, der Aggressor ist ohne Zweifel Rußland. Diese Länder werden sicher nicht die Gewinner dieses Krieges sein. Die Menschen in der Ukraine, in Rußland, aber auch in Deutschland und in der Tschechischen Republik werden bestimmt nicht gewinnen. Sie werden in jedem Fall verlieren, nicht nur materiell.
Im Prinzip geht es in diesem Krieg um etwas anderes und größeres. Es geht um die Hegemonie in der heutigen, objektiv schon multipolaren Welt. Dehnt sich der Krieg noch aus? Man sollte hier das Imperfektum benutzen. Die Ausdehnung ist – in manchen direkten und indirekten Formen – bereits geschehen, aber womöglich noch nicht abgeschlossen. Wer aber wird der größte Verlierer sein? Bestimmt sind das die zwei kämpfenden Länder. Aber langfristig wahrscheinlich Rußland noch mehr. Die Stärke der Mehrheit der entwickelten Länder wird sich früher oder später durchsetzen. Rußland hat keine Chance, es zu ändern.
Doch viel wichtiger scheint mir die Frage, was wir verlieren werden. Wir werden den Frieden, die Demokratie, die Unabhängigkeit (vor allem der kleineren Länder), viel Geld durch die massive Aufrüstung in der ganzen Welt verlieren. Besonders werden wir die Leichtigkeit des Seins verlieren, im Sinne des tschechischen Autors Milan Kundera. Über die Unerträglichkeit dieser Leichtigkeit möchte ich lieber gar nicht erst sprechen.
Prof. Dr.-Ing Václav Klaus war von 2003 bis 2013 Präsident der Tschechischen Republik und von 1992 bis 1998 Ministerpräsident seines Landes. Er ist Wirtschaftswissenschaftler.
über ein Jahr
diplomatische Lösung vergleichbar mit Situation vor Beginn des Krieges
Es wird zu Verhandlungen kommen
Der alte chinesische Feldherr und Militärtheoretiker Sun Tzu schrieb schon 450 vor Christus: „Niemand hat jemals von einem langen Krieg profitiert.“ Unabhängig davon, wer gewinnt und wer verliert, bedeutet dies, ein solcher Krieg wird beide Kriegsparteien blutend und bankrott zurücklassen, wenn nicht ein Wunder geschieht. Die Kampfhandlungen könnten noch für eine lange Zeit fortdauern, wie es auch im Hundertjährigen Krieg und im Dreißigjährigen Krieg der Fall war. Vielleicht gibt es einige Unterbrechungen, die immer eine Chance und ein Ausgangspunkt für diplomatische Lösungen sein können.
Solange aber kein Kriegsteilnehmer einen eindeutigen Sieg erringt, wird es höchstwahrscheinlich früher oder später zu Verhandlungen kommen, wenn entweder Rußland oder die USA des Krieges überdrüssig werden, einen Sieg für unmöglich halten und versuchen, ihre Verluste zu begrenzen.
Bis dahin ist es aber durchaus möglich, daß sich der Krieg ausdehnt und weitere Staaten in die Kampfhandlungen gezogen werden. Im Moment sind Polen und Moldawien die Länder, die am ehesten in den Krieg eintreten werden. Aber das muß nicht unbedingt das Ende der Fahnenstange sein. Hier muß man bedenken: Polen ist Nato-Mitglied.
Beispielsweise könnte Putin einerseits einen bevorstehenden Sieg wittern und versuchen, ihn auszunutzen, indem er etwas von dem Boden zurückgewinnt, den Rußland in der postkommunistischen Zeit verloren hat. Oder andererseits könnte er auch eine bevorstehende Niederlage auf ihn zukommen sehen und versuchen, sie zu verhindern. In diesem Fall wird aber wahrscheinlich zuerst eine Art Staatsstreich stattfinden.
In jedem Fall ist das Risiko einer Eskalation enorm, was auch beide Seiten wissen. Das Ergebnis könnte ein dritter Weltkrieg sein, der große Teile der Erde in eine radioaktive Wüste verwandelt, und sogar das Ende der Zivilisation bedeuten würde, wie wir sie heute kennen. Aber ist diese Tatsache eine Garantie dafür, daß es nicht zu einem solchen Krieg kommen wird? Mitnichten. Bisher ist der große Gewinner – tertius gaudens – China.
Prof. Dr. Martin van Creveld gilt als einer der weltweit bekanntesten Militärhistoriker. Er ist emeritierter Professor für Geschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem.
über ein Jahr
Verhandlungsfrieden zugunsten Rußlands
Nur ein Pyrrhussieg für Rußland
Die ukrainische Armee ist nicht zusammengebrochen, wie Putin anfangs vielleicht erwartet hat. Ihre Widerstandsfähigkeit ist beeindruckend, aber sie ist nicht gleichbedeutend mit der Fähigkeit, eine massive Offensive gegen die Krim zu starten, geschweige denn, ein Land zu besiegen, das 30mal so groß ist, die dreifache Bevölkerung hat, das neunfache BIP erwirtschaftet und über unendlich viel größere natürliche Ressourcen verfügt. Gleichzeitig ist die Entsendung westlicher Waffensysteme bedeutungslos, wenn sie nicht in einer kohärenten strategischen Vision verankert ist. Die hat der Westen nicht. Ein solcher fatalistischer Automatismus erinnert an die europäische Krise, die 1914 tragischerweise zum Ersten Weltkrieg führte.
Ich rechne mit einem weiteren Jahr der Kämpfe, in dem die Russen bis zum Dnjepr vorrücken werden, woraufhin es einen langen Waffenstillstand ohne formellen Friedensvertrag geben wird. Ein eingefrorener Konflikt wie in Korea nach 1953 ist besser als eine gewaltsame und unvorhersehbare Lösung des Problems zu erzwingen. Das Einfrieren der Kontaktlinien würde das Gemetzel stoppen und die Eskalation zwischen der Nato und Rußland verlangsamen. So könnte verhindert werden, daß eine der beiden Parteien ihr Gesicht verliert und sich die Gemüter für eine politische Einigung einige Jahre später beruhigen.
Rußland wird nicht zusammenbrechen. Putin mag stürzen, aber seine Nachfolger werden mit ziemlicher Sicherheit noch radikaler nationalistisch sein als er. Der Westen wird an seiner Stelle einigen gefährlichen Eurasiern gegenüberstehen. Doch selbst dann, wenn es dem Westen unter großen Risiken gelingt, Rußland zu zwingen, sich auf die Grenzen von vor 2014 zurückzuziehen, und selbst dann, wenn man die Ukraine anschließend in die Nato aufnimmt: der Westen wird weniger sicher sein als vor dem Putsch auf dem Maidan. Er würde die Verantwortung für die Unterstützung und Verteidigung eines bankrotten Staates mit einer der korruptesten Eliten Europas übernehmen.
Schlimmer noch, der kollektive Westen würde auf ewig zum Garanten der von den Bolschewiki 1922 willkürlich gezogenen und von Chruschtschow 1954 erweiterten Grenzen der Ukraine. Diese Grenzen würden mit Sicherheit von einem verbitterten, revanchistischen Rußland weiterhin angefochten werden – so wie die Ostgrenzen Deutschlands nach Versailles heftig umstritten waren, mit ähnlichen langfristigen Folgen.
Der wahrscheinlichste Ausgang des Krieges ist ein Verhandlungsfrieden, territorial zugunsten Rußlands, irgendwann am Ende dieses Jahrzehnts und nach einer langen Periode des eingefrorenen Waffenstillstands. Es wird jedoch ein Pyrrhussieg für Rußland sein: Geopolitisch gesehen wird der einzige Nutznießer China sein, das seinen riesigen nördlichen Nachbarn nicht als Partner, sondern als abhängigen Bittsteller behandeln wird. Europa wird wirtschaftlich ruiniert und politisch gedemütigt sein, natürlich zur Freude von Amerikas globalen Hegemonisten, die gleichermaßen verrückt sowie böse sind – und die größte existierende Gefahr für das Überleben unserer Zivilisation darstellen.
Prof. Dr. Srđa Trifković ist Auslandschef des US-Magazins „Chronicles“. Er hat einen Lehrstuhl für Politikwissenschaften an der Universität von Banja Luka (Bosnien und Herzegowina).
über ein Jahr
Verhandlungsfrieden zugunsten Rußlands
Deutsche Interessen zuerst
Der Ukrainekrieg ist in erster Linie ein amerikanisch-russischer Krieg. Es geht nicht darum, daß „westliche Werte“ in der Ukraine gegen Putin verteidigt werden oder darum, Putin zu stoppen, damit er nicht den Westen überrollt. Das sind unglaubhafte Vorwände, um den Krieg gegenüber den Wählern zu rechtfertigen. Ich bin kein „Putin-Versteher“ und habe kein Verständnis für seine Politik: Allerdings denke ich, daß ich ganz gut verstehe, wie er denkt. Andernfalls hätte ich als Geheimdienstchef meine Hausarbeiten nicht gemacht.
Ich verstehe auch unsere amerikanischen Partner. Für uns sind die USA Freunde, für die USA sind wir ein nützliches Werkzeug in der globalen Auseinandersetzung. Die USA werden auch nicht zögern, uns vor einen Zug zu werfen, wenn es ihren Interessen dient. Für mich sind nicht die Interessen der Amerikaner, der Russen oder anderer Staaten vorrangig, sondern allein deutsche Interessen.
Ich halte es für wenig wahrscheinlich, daß die USA und die Ukraine den Krieg gewinnen werden. Rußland ist Atommacht und ist angetreten, seine Kriegsziele zu erreichen. Wenn Putin klug ist, hat er seine Armee bislang noch geschont, da er nicht weiß, ob es nicht zu einer direkten militärischen Auseinandersetzung mit der Nato kommen wird. Würde er seine besten Truppen in der Ukraine verheizen, dann könnte er eine mögliche Auseinandersetzung mit der Nato nur nuklear beantworten. Die Hoffnung mancher westlicher „Rußlandexperten“, ein Machtwechsel im Kreml könnte zu einer Wende führen, halte ich für unrealistisch. Die möglichen Nachfolger Putins sind eher Falken als Tauben.
Es ist im deutschen Interesse, daß der Krieg sofort beendet wird, weil wir neben den Ukrainern die Hauptverlierer dieses Krieges sein werden: ökonomisch und politisch, hoffentlich nicht militärisch, wobei ich auch das nicht ausschließen kann. Aus meiner Sicht wird der Krieg nicht so schnell beendet werden. Ob es zu einem Waffenstillstand und zu einem Frieden kommt, hängt in erster Linie davon ab, ob die USA es wollen.
Sie und ihre Verbündeten erklärten immer wieder, daß sie nicht mit Putin verhandeln wollen. Putin wird dämonisiert wie früher die Taliban, wie Saddam Hussein oder Assad. Solange jemand dämonisiert wird, ist man zu einer diplomatischen Lösung nicht bereit. Die Chefdiplomatin Deutschlands, Frau Baerbock, möchte lieber Kriegsministerin sein, die nicht verhandelt, sondern das Volk auf einen langen Krieg einstimmt. Da bisher von seiten der USA, der Ukraine und der EU auf Eskalation gesetzt wurde, halte ich es durchaus für möglich, daß der Krieg außer Kontrolle gerät. Putin wird sicherlich Deutschland nicht schonen, wenn er in die Enge getrieben wird. Wie bei allen Kriegen der USA kann aber auch die Kriegslust nach einiger Zeit nachlassen, beispielsweise bei einem Regierungswechsel. Bis dahin werden leider noch viele Ukrainer sterben, und wir werden ökonomisch absteigen.
Dr. Hans Georg Maaßen war von August 2012 bis zu seiner Versetzung in den einstweiligen Ruhestand im November 2018 Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz.