Herr General, wird die nun begonnene russische Frühjahrsoffensive den Krieg entscheiden?
Hans-Lothar Domröse: Na ja, wir sehen, daß die russischen Streitkräfte lediglich meterweise vorankommen. Aber sie kommen voran – mit enormen Verlusten.
Was heißt das? Ist eine Offensive im Schneckentempo im Grunde gescheitert oder führt sie auch so zum Erfolg?
Domröse: Die Russen operieren doch schon seit Beginn des Krieges so. Als vor einem Jahr Putins „Spezialoperation“ begann, hat jeder Experte erwartet, eine Weltmacht wie Rußland würde schnell bis Kiew durchstoßen. Doch statt eines Blitzkriegs kam es zu einem zähen und blutigen Ringen, das bis heute anhält.
Und was bedeutet das nun für die Offensive?
Domröse: Von den im Herbst teilmobilisierten Soldaten hat die russische Armee nun 100.000 für diese Offensive herangeführt. Weitere 100.000 können jederzeit in die Ukraine verlegt werden. Zudem erreichen pro Woche ein bis zwei Militärzüge mit Munition und Waffen die vorderen Truppen. Die Russen verbessern so tagtäglich das Kräfteverhältnis zu ihren Gunsten.
Für Schlagzeilen hat jüngst Ex-US-General Ben Hodges gesorgt, als er eine Entscheidung des Krieges für diesen Sommer und vermutlich zugunsten der Ukraine prognostiziert hat. Ist das plausibel?
Domröse: Ich schätze Hodges, wir sind im Austausch. Und was er dabei voraussetzt ist, daß wir die Ukraine mit allem ausstatten, was diese so dringend braucht. Auch mit Flugzeugen, Drohnen und weitreichender Artillerie, damit sie nicht nur die russischen Truppen an der Front, sondern auch deren rückwärtige Kommando- und Nachschubstellen zerschlagen kann. Passiert das, mag Hodges recht behalten. Solange die westliche Unterstützung aber weiter nur tröpfelt, halte ich die Prognose für eher fraglich.
Nach einem entsprechenden Wandel in der Politik sieht es derzeit nicht aus. Heißt das im Umkehrschluß, nicht die Ukrainer, die Russen gewinnen im Sommer?
Domröse: Die Frage ist, was man unter „gewinnen“ versteht. Im Frühjahr 2014 haben die Russen die Krim annektiert, im Herbst vier weitere Provinzen im Osten und Süden an sich gebracht – auch wenn sie Donezk und Lugansk noch nicht ganz unter Kontrolle haben. Aber in diesem etwa hundert Kilometer breiten und 1.500 Kilometer langen Streifen vom Donbas bis nach Cherson haben sie sich weitgehend festgesetzt. Somit muß man feststellen, daß sie bei weiterem Ausbleiben einer entschiedenen westlichen Hilfe einen Landgewinn für sich verbuchen können – leider.
Aber damit ist der Krieg doch noch nicht gewonnen?
Domröse: Wie gesagt, es kommt darauf an, wie man das definiert. Das ukrainische Ziel ist es, alle besetzten Gebiete zurückzuerobern. Gelingt das nicht, haben die Russen im Grunde gewonnen.
Das heißt, das strategische Ziel der russischen Offensive ist also, nur die von ihnen besetzten Territorien zu arrondieren, nicht die ganze Ostukraine zu erobern?
Domröse: Ich weiß es natürlich nicht, aber derzeit sehen wir, daß die Russen zwar in Donezk vorrücken, weil die Provinz noch nicht ganz in ihrer Hand ist, im Süden aber strategische Defensive betreiben. Das läßt vermuten, es geht ihnen derzeit wohl „nur“ um das Sichern ihrer territorialen Gewinne. Allerdings hat Putin gesagt, er wolle die ganze Ukraine „entwaffnen und denazifizieren“.
Die Ukraine will nicht verzichten, die Russen nicht hergeben, und da keiner stark genug ist, den anderen zu schlagen lautet die Bilanz nach einem Jahr also, daß wir mit einem noch jahrelangen Krieg rechnen müssen, richtig?
Domröse: Ja, nach einer klassischen Entscheidung – hier ein triumphierender Sieger, dort ein geschlagener Verlierer – sieht es nicht aus. Allerdings, wenn keiner „richtig“ gewinnt, dann verlieren besonders die beiden Kriegsparteien – Tod, Leid, Vertreibung, Zerstörung der Infrastruktur und der internationalen Beziehungen – und wir alle verlieren Stabilität und Sicherheit.
Sie fordern, der Ukraine mehr Waffen zu geben und haben vorausgesagt, daß wir, entgegen den Bekenntnissen der Politiker, früher oder später auch Düsenjäger liefern werden. Was macht Sie da so sicher?
Domröse: Wir wollten keine Panzerhaubitzen, keine Flugabwehr-Panzer, keine Schützenpanzer, und keine Kampfpanzer liefern – dann haben wir sie doch geliefert. Jetzt wollen wir keine Flugzeuge liefern – und werden am Ende auch sie liefern.Und das ist auch richtig, denn die Ukraine braucht moderne High-Tech-Ausrüstung – und davon viel! Am Ende muß die Ukraine sowieso mit westlichen Systemen ausgestattet werden, denn russische Systeme wird sie wohl kaum mehr bestellen.
Wieviel ist denn „viel“?
Domröse: Die Ukraine sagt, sie benötige mindestens 1.000 gepanzerte Fahrzeuge, darunter 300 Kampfpanzer. Wir haben ihnen gerade einmal 30 moderne Leopard 2 versprochen – und tatsächlich liefern können wir derzeit nur 14. Auf der Gegenseite schickt Putin Hunderte weitere Panzer! Also, die Lage ist schrecklich: Man muß sich im klaren sein, daß die Russen die Masse und Kraft haben, Furchtbares anzurichten! Und der Ukraine mangelt es an allen Ecken und Enden, um sich zu wehren. Und je weniger geeignete Waffen sie hat, desto mehr Männer und Frauen müssen sterben. Deshalb dürfen auch Flugzeuge kein Tabu sein, denn sie ermöglichen, in kürzester Zeit innerhalb eines weiten Raumes zu wirken: Braucht man etwa im Norden Unterstützung aus dem Süden, dann sind Panzer eine Woche unterwegs. Kampfjets dagegen wären schon nach ein, zwei Stunden vor Ort.
Flugzeuge werden der Ukraine verweigert, weil diese damit auch nach Rußland einfliegen könnte. Und Angriffe auf das russische Mutterland mit westlichen Waffen hält man mit Blick auf das Atomwaffenarsenal des Kremls für zu riskant. Ist das nicht einleuchtend?
Domröse: So einfach ist es nicht, die russische Luftabwehr zu durchdringen. Und es geht auch gar nicht um die Zerstörung Rußlands, sondern um das Überleben der Ukraine! Wenn dies ein „Kampf um Frieden und Freiheit in Europa und der Welt ist“, wie Boris Pistorius in seinem ersten Tagesbefehl sagte, dann muß man alles tun, damit die Ukraine ihre Grenzen von 1991 wiedererlangen kann.
Aber ist, rein sicherheitspolitisch gedacht, ein Sieg der Russen für uns nicht das kleinere Übel? Denn die Besetzung der Ukraine bedeutet keine entscheidende Bedrohung für den Westen, dessen Abschreckungsdoktrin das nicht beeinträchtigt. Dagegen birgt ihr Sieg das Risiko eines, wenn auch wohl zunächst begrenzten, Atomwaffeneinsatzes durch Putin, um diesen abzuwenden.
Domröse: Nein, dieser Logik folge ich nicht.
Ist das nicht ein durchaus mögliches Szenario?
Domröse: Nein, es kann nicht angehen, daß der Kreml verfügt, dieser oder jener Staat habe kein Recht zu bestehen und ihn einfach liquidiert. Wer garantiert uns, daß die Russen in der Ukraine haltmachen? Putin hat vor dem Überfall gesagt, er wolle alles zurückdrehen auf 1997 – also ganz Osteuropa unter seine Kontrolle bringen. Das können wir nicht zulassen!
Einen Atomwaffeneinsatz zu riskieren ist aber doch ebenso gefährlich. Muß man der Argumentation also nicht Relevanz zugestehen?
Domröse: Man darf die nukleare Gefahr nicht auf die leichte Schulter nehmen. Aber wir dürfen uns auch nicht ängstlich „selbst abschrecken“. Sie können es doch nicht gutheißen, wenn eine Großmacht einfach andere Länder schluckt! Wo kommen wir da hin? Zumal Putin nicht nur das Völkerrecht bricht, sondern sogar Verträge, die er selbst unterzeichnet hat!
Das ist völlig verständlich, hebt aber das sicherheitspolitische Problem, daß Putin über das größte Atomwaffenarsenal der Welt verfügt, doch nicht auf.
Domröse: Richtig, aber das sogenannte „nukleare Tabu“ kann auch er nicht ungestraft brechen. Rußland ist NICHT bedroht! Seine Invasionskräfte in der Ukraine schon. Ich sage es nochmal ganz deutlich: Es geht nicht um einen Angriff auf Rußland! Es geht einzig und allein um die Freiheit der Ukraine!
Von Jalta bis zum Ende des Kalten Krieges war es westliche Strategie, um eine – womöglich atomare – Eskalation zu vermeiden, Osteuropa der Sowjet-union zu überlassen, und weder 1953 in der DDR noch 1956 in Ungarn oder 1968 in der ČSSR hat der Westen eingegriffen. Das kann man richtig oder falsch finden, aber es hatte seinen Grund. Und dieser Grund ist doch nicht einfach verschwunden.
Domröse: Doch. Das war eine andere Zeit, in der man den Globus in Einflußzonen eingeteilt hat. Die Welt hat sich weiterentwickelt. Heute geht es um das Selbstbestimmungsrecht der Völker – um Souveränität. Putin hat klargemacht: er will das Baltikum, Polen und Moldau! Wenn wir ihm Kiew überlassen, wären sie als nächste dran.
Auf die Frage nach der Reaktion der Nato, sollte Putin eine Nuklearwaffe einsetzen, haben Sie im ZDF geantwortet, diese würde dann mit einem massiven konventionellen Vergeltungsschlag dessen Ukraine-Armee zerstören. Damit aber wäre die Nato, also auch wir, mit Rußland im Krieg. Und was, wenn Putin daraufhin mit einer Kernwaffe gegen die Nato Vergeltung übt? Das würde wiederum unsererseits nicht unbeantwortet bleiben ... Könnte so nicht eine Kettenreaktion entstehen, die sich, wie 1914, verselbständigt?
Domröse: Ich habe im ZDF gesagt, daß Putin wahrscheinlich keine Atomwaffe einsetzen wird, weil Rußland NICHT in seiner Existenz bedroht ist! Würde er es aber dennoch tun, dann würde er China als Partner verlieren und zusätzlich seine eingesetzten Streitkräfte durch eine konventionelle Reaktion einzelner westlicher Staaten – nicht der Nato. Ein Diktator ohne Streitkräfte ist ein „nackter Mann“. Ich halte daher Ihr Szenario für unrealistisch.
Folge des russischen Angriffs ist auch die sogenannte „Zeitenwende“. Das dafür beschlossene „Sondervermögen“ von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr schmilzt allerdings dahin. Allein die Anschaffung von Munition verschlingt bereits 30 Milliarden ...
Domröse: ... ja, dazu kommen weitere Milliarden für Luftverteidigung, Führungsmittel, Hubschrauber und eine Menge mehr. Deshalb hat Verteidigungsminister Pistorius auch schon gesagt, daß er mehr Geld brauche. Dem kann ich nur zustimmen!
Die Frage ist, kann er sich damit durchsetzen oder wird die Politik die „Zeitenwende“ angesichts der tatsächlichen Kosten am Ende verpuffen lassen?
Domröse: Ich glaube, die Regierung wird ihr Versprechen, künftig das Zwei-Prozent-Ziel, also den Verteidigungshaushalt zu erhöhen, halten. Das wären dann, statt der 50 Milliarden Euro bisher, etwa 70 Milliarden pro Jahr. Zusammen mit dem Sondervermögen könnte das erst einmal reichen.
Aber Sie sagten doch eben, es werde mehr benötigt?
Domröse: Natürlich, wenn Sie einen General fragen, wird er immer mehr brauchen.
Um wieviel müßte das „Sondervermögen“ oder der Verteidigungsetat also erhöht werden?
Domröse: Das läßt sich so einfach nicht sagen, denn weder kenne ich alle Preise noch den genauen Bedarf der Streitkräfte. Dazu kommt, daß man viele Waffen und Geräte nicht auf einen Schlag kauft, sondern über einen längeren Zeitraum Stück für Stück anschafft. Mit der Zeit ändern sich aber auch die Preise. Die übrigens auch davon abhängen, welche Extrawünsche man hat oder ob man „von der Stange“ kauft.
Schon bisher hatten wir eines der höchsten Militärbudgets weltweit, 2021 Platz sieben, und doch standen wir zu Beginn des Ukraine-Krieges „blank“ da, so der Inspekteur des Heeres vor einem Jahr. Müssen also nicht erst mal Verteidigungsministerium, Beschaffungswesen und Bundeswehr reformiert werden? Da sonst doch auch das zusätzliche Geld zum Teil zu versickern droht.
Domröse: Ja, selbstverständlich. Aber auch das will der neue Verteidigungsminister ja anpacken.
Das haben allerdings auch schon seine Vorgänger versprochen – und nicht gehalten. Was macht Sie zuversichtlich, daß das bei Boris Pistorius anders sein wird?
Domröse: Moment, jeder Minister hat auch etwas hinterlassen, was der Truppe gutgetan hat, ohne jetzt ins Detail zu gehen. Geben Sie Minister Pistorius erst einmal eine Chance.
Was haben denn seine Vorgänger falsch gemacht, was er nun richtig machen muß?
Domröse: Es hat wenig Sinn, über frühere Minister zu sprechen. Das ist doch Schnee von gestern. Was wir an Neustrukturierung brauchen, geht aus allen Berichten hervor. Nehmen Sie nur die zahlreichen, guten Wehrbeauftragten-Berichte. Das muß er umsetzen: Action jetzt!
Ein Jahr Ukraine-Krieg hat auch eine erstaunliche Entwicklung in unserer Gesellschaft gebracht. Vor dreißig Jahren noch galten Nato und Bundeswehr in Teilen der Gesellschaft, etwa in grünen Kreisen, als „das Letzte“. Heute sind es genau diese, die am lautesten nach Waffenlieferungen rufen. Wie empfinden Sie eigentlich diese völlige Umkehrung der Zustände?
Domröse: Ich habe mich nie schlecht behandelt gefühlt. Im übrigen spricht es doch für die Grünen, daß sie sich der Zeit anpassen. Vor dreißig Jahren zogen 2.000 russische Panzer aus Deutschland ab; Polen und Osteuropa waren frei. Großartig! Gorbatschow war unser Partner. Klar, daß wir alle glücklich waren. Heute sitzt im Kreml ein gieriger Imperialist: vom Rückzug der Russen, zur Rückkehr der Russen – das ist die Lage! Und die Grünen haben das begriffen, schneller, als manch anderer!
Hat sich eigentlich jemals jemand bei Ihnen entschuldigt? Stichwort „Soldaten sind Mörder“-Urteil etc.
Domröse: Ach nein, muß doch auch keiner! Das Thema haben wir doch schon mit Peter Struck – Gott hab ihn selig! – abgeräumt. Das alte Urteil ist heute, angesichts des Krieges in Europa nicht mehr relevant. Heute schätzt man die Soldaten, und ihre Leistung ist anerkannt.
General a.D. Hans-Lothar Domröse, der 1952 in Hannover geborene Sohn des Generalleutnants der Bundeswehr Lothar Domröse begann seinen Dienst 1973 beim Panzergrenadierbataillon 23. Er diente als Stabsoffizier in diversen Verwendungen unter anderem im Bundeskanzleramt, Bundesverteidigungsministerium und bei der Nato sowie in Afghanistan und im Kosovo. Zuletzt kommandierte der Vier-Sterne-General das Allied Joint Force Commando Brunssum (ehemals Alliertes Regionalkommando Nordeuropa). 2016 nahm er seinen Abschied.
Foto: Fernsehgast Domröse (in der Sendung „Hart aber fair“ vom 13. Februar): „Erst wollten wir keine Panzer liefern. Jetzt wollen wir keine Flugzeuge liefern. Doch am Ende werden wir auch das tun“