© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 8/23 / 15. Februar 2023

Schlimmste anzunehmende Fälle
Der Putin-Biograph Thomas Fasbender wagt eine Prognose über die Entwicklungen im 21. Jahrhundert und verfällt dabei in apokalyptisches Geraune
Michael Dienstbier

Vom dänischen Physiker Niels Bohr stammt das Bonmot, Vorhersagen seien schwierig, vor allem dann, wenn sie die Zukunft betreffen. Dahinter verbirgt sich der Gedanke, daß ein Autor, auch wenn er seine Analysen vollster Überzeugung vertritt, immer die Möglichkeit der eigenen begrenzten Perspektive im Hinterkopf behalten sollte. Politische und historische Prozesse lassen sich nicht wie von einem Algorithmus gesteuert punktgenau in die Zukunft projizieren. Geschichte ist immer kontingent, und wie unser Leben in fünfzig oder hundert Jahren aussehen wird, kann heute niemand mit Sicherheit vorhersagen. Genau diesen Anspruch deutet der Historiker Thomas Fasbender in seinem Essay „Das unheimliche Jahrhundert: Vor der Zeitenwende“ jedoch an. Auf weniger als 200 Seiten versucht er anhand so verschiedener Themenbereiche wie Klima, Migration, Hunger oder Transhumanismus ein stringentes Narrativ des anstehenden 21. Jahrhunderts zu entwickeln. Mit diesem anspruchsvollen Unterfangen ist Fasbender gescheitert, auch wenn er punktuell mit präzise formulierten Einsichten zu überzeugen weiß.

Das Buch unterteilt sich in sieben Kapitel, die jeweils, so erscheint es zuerst, den oben genannten Themen gewidmet sein sollen. Und doch kommt Fasbender nach einigen Schlenkern immer wieder zu dem Aspekt zurück, dem ganz offensichtlich seine Hauptaufmerksamkeit gilt: dem Klimawandel und den Disruptionen, den dieser mit Sicherheit auslösen werde. Ausgiebig widmet er sich den diversen Szenarien von der Ein-Grad- bis zur Fünf-Grad-Welt, wobei gerade letzteres bei Fasbender apokalyptische Ausmaße annimmt. Diese Bedingungslosigkeit, mit der Fasbender hier die Klima-Kassandra gibt, verwundert dann doch, geht er mit seinen Vorhersagen der negativen Auswirkungen der Erderwärmung sogar noch über das Worst-Case-Szenario des IPCC der UN, auf deutsch: Weltklimarat, hinaus. Durch entsprechende politische Maßnahmen, so der Weltklimarat, seien etwas globale Hungersnöte mit den daraus resultierenden Migrationsströmen kein Automatismus, so wie von Fasbender dargelegt. Durch die Erwärmung werden sich die Bedingungen für landwirtschaftliche Produktion in vielen Teilen der Erde verbessern. Diese Entwicklung so zu organisieren, daß potentiell alle Menschen davon profitieren, wäre die wahre Aufgabe der Weltgemeinschaft, anstatt krampfhaft zu versuchen Dinge zu verhindern, die außerhalb des menschlich Möglichen liegen.

Parallelen zum „heroischen Realismus“ eines Ernst Jünger

Einem wohlfeilen Aktivismus à la Greta Thunberg redet Fasbender aber nicht das Wort – genau das Gegenteil ist der Fall. Für ihn wäre es ein Erfolg, bis zum Ende des 21. Jahrhunderts eine Erwärmung von vier oder fünf Grad zu verhindern. Alles andere sei die Hybris einer Menschheit im Machbarkeitswahn, die jedes Maß verloren habe. Den gerade zu beobachtenden und medial gehypten Klimaaktivismus erachtet er als kontraproduktiv, da dessen Radikalität viele Menschen abstoße und somit eher dazu führen würde, eine potente Gegenbewegung zum Leben zu erwecken.

Was genau nun prognostiziert Fasbender für das anstehende Jahrhundert?: „Politische Polarisierung, Stärkung der Extreme, Schwund des gesellschaftlichen Zusammenhalts, Exporteinbrüche, Protektionismus, Steuerausfälle, Niedergang der Infrastruktur (…).“ Diese Aufzählung negativer Erscheinungen endet erst nach einer weiteren halben Seite. Wir müßten, so Fasbender, dies alles als unausweichlich akzeptieren, um den anstehenden Herausforderungen gewachsen zu sein. Hier zeigen sich Parallelen zum heroischen Realismus nach Ernst Jünger, der in Illusionslosigkeit gepaart mit Härte gegen sich selbst und andere den einzigen Weg sah, in einer Welt außer Rand und Band zu bestehen.

Es bestreitet wohl niemand, daß die Welt im 21. Jahrhundert sich schneller verändern wird als im vorangegangenen Säkulum, genauso wie sie sich im 20. schneller verändert hat als im 19. Jahrhundert. Die Radikalität der Veränderungen mitsamt der Schicksalsergebenheit, die Fasbender hier als alternativlos verkauft, sollte jedoch keiner als gegeben akzeptieren. Das apokalyptische Geraune, mit dem der Autor die Welt des Klimawandels beschreibt, beruht nicht auf wissenschaftlichen Erkenntnissen, sondern auf zum Teil höchst umstrittenen Worst-Case-Szenarien einiger politisch eindeutig zu verortenden Klimaforscher. Dabei kommen die tatsächlichen disruptiven Veränderungen, die auf uns zukommen, bei Fasbender durchaus zu Wort: das Ende des westlichen Werteuniversalismus, der Aufstieg Chinas, die geopolitische Marginalisierung Europas oder die Radikalisierung der sogenannten liberalen Demokratien im Kampf gegen Kritiker im Inneren. Diese zentralen Aspekte werden aber aufgrund der vom Autor vorgenommenen Gewichtung in Richtung Klima nur stichpunktartig angerissen.

Im Dezember 2021 erschien Thomas Fasbenders herausragende Biographie über Wladimir Putin (JF 13/22). Nah an den Quellen und geprägt durch eine intime Kenntnis des Landes durch seine jahrelange Arbeit in Rußland, legte er ein wissenschaftlich fundiertes und zugleich sehr gut lesbares Buch vor, welches uns (West)Europäern gerade im Hinblick auf den kurz nach der Veröffentlichung erfolgten russischen Einmarsch in die Ukraine die Persönlichkeit Putins verständlich näherbringt. Diese analytische Tiefenschärfe geht dem vorliegenden Buch nahezu völlig ab. Die Stärken Fasbenders liegen eindeutig in der Analyse historischer Prozesse und nicht in der Vorhersage des Kommenden. Genau auf diese Stärken hätte er sich konzentrieren sollen.


Thomas Fasbender: Das unheimliche Jahrhundert. Vor der Zeitenwende. Manuscriptum Verlag, Lüdinghausen 2022, gebunden, 186 Seiten, 26 Euro