Hans-Christof Kraus sticht schon seit Jahrzehnten mit einem äußerst weitgespannten publizistischen Horizont hervor – auch und gerade im Vergleich zu den anderen Vertretern seiner akademischen Zunft. Bereits vor seiner Ernennung zum Ordinarius für Neuere und Neueste Geschichte in Passau hat er mit grundlegenden Publikationen auf sich aufmerksam gemacht. Zu erwähnen sind das zweibändige Werk über den preußischen Politiker und Juristen Ernst Ludwig von Gerlach und die materialreiche Abhandlung über den um 1800 einflußreichen Kameral- und Rechtswissenschaftler Theodor Anton Heinrich Schmalz.
Die Sammlung von Aufsätzen im ersten Band von Kraus’ „Kleinen Schriften“ besteht nicht nur aus aneinandergereihten Texten, die an verschiedenen Orten bereits früher veröffentlicht wurden. Die ausgewählten Studien zeigen vielmehr neue Zugänge zu einem alten Problem auf: zur politischen Theorien- und Ideengeschichte und ihrem epistemologischen Status. Klassische Schriften der deutschen Literatur, aber auch weiter darüber hinaus, wie Goethes „Tasso“, Schillers „Spaziergang“ und Hegels „Phänomenologie des Geistes“, sind mit den geschichtlichen Umständen und Ereignissen ihrer Epoche enger verbunden, als es auf den ersten Blick scheinen könnte. Doch dieser Zusammenhang ist grundsätzlich schwer zu entschlüsseln. Aus Hegels „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ stammt der viel zitierte Satz: „Die Philosophie erfaßt ihre Zeit in Gedanken“.
Weiter Bogen von der Aufklärung bis zum Totalitarismus
Nur, was bedeutet dieser Hinweis genauer? Konkret-realgeschichtliche Vorgänge wie die Kriegsfolgenbewältigung und Peuplierung, die im Denken deutscher Kameralisten des 17. wie 18. Jahrhunderts eine wichtige Rolle spielten und vom Autor im ersten Beitrag der Essaysammlung aufgegriffen werden, lassen sich nur schwer adäquat auf die ideenpolitische Ebene transformieren. Hegels phänomenologischen Optimismus teilen wir heute nicht mehr. Realpolitische Handlungen und das dadurch nicht selten hervorgerufene Leiden der Bevölkerung – so auch in diesem Beispiel – entziehen sich im Letzten einer solchen theoretischen, meist unterkomplexen Erfassung. Ebenso ist die Langzeitperspektive der entsprechenden Gedankengebäude schwer miteinander zu vergleichen. Kameralistische Bevölkerungstheoretiker im 18. Jahrhundert, die in der Regel biopolitische Maßnahmen zur Vermehrung der Untertanen vorgeschlagen hatten, hatten vorrangig das Ziel, die schrecklichen Wüstungen des Dreißigjährigen Krieges zu beseitigen, womit sie wenig gemein hatten mit ihren Erben insbesondere im Deutschland des frühen und mittleren 20. Jahrhunderts.
Ungeachtet aller (auch methodischen) Schwierigkeiten handelt es sich hierbei um einen faszinierenden Themenkomplex, der von alten Unterbau- und Überbau-Debatten, die der Autor kritisch sieht, nicht gänzlich getrennt werden kann. Kraus kann an herausragende Vorläufer wie Hermann August Korff, Friedrich Meinecke und Gerhard Ernst Otto Schulz anknüpfen. Ihr umfangreiches Werk ist zwischen Geistes-, Ideen- und Literaturgeschichte einzuordnen.
Inhaltlich spannt Kraus einen weiten Bogen. Der erste Teil beschreibt den Übergang von der Aufklärung zur Romantik anhand markanter Gestalten des Epochenumbruchs, darunter Andreas Riem, Ernst Brandes und Vertreter der Früh- und Spätromantik. Es schließt sich der zweite Abschnitt mit Blick auf das 19. Jahrhundert an. Er umfaßt Erörterungen von den sakralisierenden Kriegsdeutungen der Jahre 1813 bis 1815 bis zur Interpretation von Parlamenten und Parteien in liberalen und konservativen Staatslexika des 19. Jahrhunderts.
Die Analysen über das 20. Jahrhundert befassen sich im dritten Teil mit Fragestellungen, die sich um die Problemfelder Totalitarismus und Demokratie drehen. In diesem Kontext wird auch ein heute vergessener Theoretiker der modernen Demokratie wie Wilhelm Haslach behandelt. Darüber hinaus finden sich Ausführungen über die Idee des „Geheimen Deutschland“. Diese hatte bereits lange vor der Rezeption durch Repräsentanten des Kreises um den Lyriker Stephan George, insbesondere durch den Widerstandskämpfer Claus Schenk Graf von Stauffenberg, geistesgeschichtliche Bedeutung erlangt. Zu verweisen ist weiter auf den Beitrag über „Rußland im Geschichtsdenken Oswald Spenglers“, der sowohl im Rahmen der Spengler-Renaissance der letzten Jahre als auch im Kontext der Debatten über die zukünftige Ausrichtung Rußlands in der Weltpolitik relevant ist.
Gesondert hervorzuheben ist Kraus’ Auseinandersetzung mit den geistesgeschichtlichen Voraussetzungen des Nationalsozialismus. Von den Anfängen der totalitären Bewegung an wurde von Freund wie Feind die Frage aufgeworfen, welcher Stellenwert den ideologischen Komponenten im Zusammenhang der nationalsozialistischen Politik tatsächlich zukommt. Dabei geht es um Hintergründe, die über das Programm der Nationalsozialisten hinausreichen. Waren die exemplarisch anzuführenden Schriftsteller Friedrich Nietzsche, Houston Stewart Chamberlain und Ernst Haeckel, deren Gedankengut sich die NS-Elite oft nur populärwissenschaftlich aneignete, mehr als nur propagandistische Aushängeschilder einer im Kern gewalttätig-aktivistischen Gruppierung? Kraus unterstreicht die Relevanz des NS-Ideenkonglomerats, also im wesentlichen die rassische Verschiedenheit der Menschen, die Abwertung des christlichen Wertesystems, eine antiindividualistische Grundhaltung und brutaler Naturalismus. Gerade aus der Bündelung dieser Ziele und aus dem fanatischen Willen, sie mit rücksichtsloser Gewalt durchzusetzen, ergibt sich der zentrale Charakter des Nationalsozialismus. Von der Erforschung geistesgeschichtlicher Voraussetzungen der Hitler-Bewegung kann Kraus zufolge auch künftig nicht abgesehen werden.
Hans-Christof Kraus: Wege und Abwege der Ideen. Studien zur politischen Geistesgeschichte der Deutschen. Verlag Duncker & Humblot,
Berlin 2022, gebunden, 449 Seiten, 49,90 Euro