© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 8/23 / 15. Februar 2023

Stelldichein in Kiew
Vierzehn Machtwechsel in drei Jahren: Die russisch-ukrainische Kriegsgeschichte nach 1917
Oliver Busch

Elard von Oldenburg-Januschau, das oft karikierte Urbild des erzkonservativen ostelbischen Junkers, prägte 1910 im Wallot-Bau das schneidige Wort, der Kaiser müsse in jedem Moment imstande sein, zu einem Leutnant zu sagen: „Nehmen Sie zehn Mann und schließen Sie den Reichstag.“ In Erfüllung ging dieser politische Wunschtraum des knorrigen westpreußischen Rittergutsbesitzers nicht in Berlin, sondern, cum grano salis, am 28. April 1918 in Kiew. Truppen der Heeresgruppe E unter Generalfeldmarschall Hermann von Eichhorn waren zwei Monate vorher einem Hilferuf des Kiewer Zentralrats, der Rada, gefolgt, und hatten die Ukraine von bolschewistischen Invasoren befreit. 

Dankbar zeigte sich das von sozialistischen und demokratischen Linken dominierte Rada-Parlament, das im Januar 1918 die ukrainische Unabhängigkeit proklamiert hatte, allerdings nicht. Denn man wollte  die Deutschen um den vereinbarten Lohn für ihre militärische Intervention prellen: Getreide- und Fleischlieferungen. Von Eichhorn schickte daher nach dem Rezept des „alten Januschauers“ Soldaten unter dem Befehl eines Leutnants in den Zentralrat, der die Abgeordneten mit der Pistole in der Faust anherrschte: „Hände hoch, im Namen der deutschen Regierung! Niemand rührt sich!“ Allein der Historiker Mychajlo Hruschewskyj, Verfasser eines Standardwerks zur Geschichte der Ukraine, erhob als Vorsitzender des Zentralrats mutig Protest, wurde aber schnarrend abgefertigt: „Jetzt befehle ich allein.“ Das war’s, kommentiert der französische Historiker Philippe Videlier diesen Eklat.  

Mehr Umstände machte das deutsche Militär bei diesem veritablen Staatsstreich nicht, der das störrische Parlament sprengte und gegen den ihm gefügigeren General Pawlo Skoropadskyj austauschte, der sich den Titel Hetman zulegte und zum „Diktator der Ukraine“ aufrückte. Videliers so lehrreicher wie kurzweiliger Monsteressay über „Revolutionsversuche in der Ukraine nach dem Ende der Belle Époque“ (Lettre International, 139–2022/23) komponiert aus Dutzenden solcher anekdotisch anmutenden Schnappschüsse ein Puzzle der hochkomplexen russisch-ukrainischen Beziehungsgeschichte, vom Untergang des Zarenreiches über den durch Nationalitätskonflikte zusätzlich befeuerten Bürgerkrieg zwischen „Rot und Weiß“ bis zur Festigung der Moskauer Sowjetdiktatur. 

Dabei lehrt Videliers Methode, Vergangenheit multiperspektivisch und im biographischen Detail zu vergegenwärtigen, Geschichte in ihrer Vielschichtigkeit zu begreifen. Eine Kunst, die man auch in der Beurteilung des aktuellen russisch-ukrainischen Krieges beherrschen sollte.    

Videlier beginnt mit der Präsentation des Personals, das vor 1914 überall scheinbar unverbunden in Europa wirkt und das sich dann 1917 doch aus allen Himmelsrichtungen eintreffend ein „Stelldichein in Kiew“ gibt. Da ist der bolschewistische Berufsrevolutionär, der Jude Leo Trotzki, der in Odessa aufwächst, Deutsch, Französisch und Russisch, nicht aber Ukrainisch und Jiddisch lernt. Seit 1907 ist er der in Wien und Paris residierende Auslandskorrespondent der demokratischen Tageszeitung Kiewskaja Mysil (Kiewer Gedanke). Als Organisator und Stratege der Roten Armee trägt er später entscheidend dazu bei, ukrainische Hoffnungen auf eine selbstbestimmte staatliche Existenz zu zerstören. Er hätte sogar mehr Macht ausüben können, hätte er am 26. Oktober 1917, einen Tag nach dem Sturm auf das Petersburger Winterpalais, Lenins Angebot akzeptiert, den stellvertretenden Vorsitz im Rat der Volkskommissare zu übernehmen. Doch Trotzki lehnt ab, „um unseren Feinden keine Gründe für die Behauptung zu liefern, unser Land werde von einem Juden regiert“.

Die Machthaber gaben sich in Kiew die Klinke in die Hand

Beim Stichwort Winterpalais klärt Videlier darüber auf, welchen bedeutenden Anteil ukrainische Bolschewisten an der Machtergreifung Lenins hatten. Da ist etwa der Ukrainer Wladimir Antonow-Owsejenko, der die Militärschule verlassen mußte, weil er den Treueid auf den Zaren verweigerte. Er ist es, der am 25. Oktober 1917 an der Spitze seiner Abteilung der Roten Garde das Winterpalais erobert. Ihn schickt Lenin dann Wochen später in die Ukraine, um die Streitkräfte der konterrevolutionären Rada zu zerschlagen. Die wiederum bedrängten hart die einheimischen Bolschewiki unter Führung von Jewgenia Bosch und ihrem Lebensgefährten Georgi Pjatakow, in der Partei „die Kijewskis“ genannt, „die aus Kiew“. Pjatakow zog zwar am 28. Oktober 1917 als Triumphator in den ehemaligen Zarenpalast in Kiew ein, mußte aber unter dem Druck von Rada-Söldnern umgehend das Feld räumen. 

An Stelle des glücklosen Pjatakow drängte sich Christian Rakowski an die Spitze der Sowjetrepublik Ukraine. Pjatakow wurde mit dem Posten des Kommissars für Wirtschaft abgefunden, Antonow-Owsejenko erhielt natürlich das Ressort Verteidigung. Rakowski, während des Exils in Frankreich als Arzt tätig gewesen, unsicherer Herkunft, jedenfalls kein Ukrainer, verdankte seine Karriere Freund Trotzki. Als „Lenin der Ukraine“ startete er im Winter 1919 furios mit Botschaften an den „Berliner Arbeiter- und Soldatensowjet“, den er zum Widerstand gegen den „Raubfrieden von Versailles“ aufrief. Doch daheim in Kiew entglitten ihm die Zügel. Die Weißen unter General Denikin und die auf Rada-Rechnung operierende Kosakenarmee Simon Petljuras marschierten am 30. August 1919 in Kiew ein. Rakowskis Bolschewiken flohen in Windeseile, Petljuras Kosaken, bedrängt von Denikins Kavallerie, folgten ihnen auf dem Fuße, nachdem sie die Zeit „genutzt“ hatten, ein paar hundert Juden umzubringen. Skrupel plagten den Obersten Ataman dabei nicht, wie er Mitte Februar 1919 mit dem Massaker in der Stadt Proskurow bewies, dem einige tausend Juden zum Opfer gefallen sein sollen.

Der britische Außenminister Lord Palmerston hielt 1864 die Schleswig-Holstein-Frage für so kompliziert, daß nur drei Männer sie verstanden hätten. Einer sei Prinz Albert, der bereits tot war. Der zweite sei ein deutscher Professor, der darüber verrückt wurde. Und der dritte sei er selbst, aber er habe alles vergessen. Um den für Videlier bei aller Akribie trotzdem nur impressionistisch darstellbaren Rattenkönig der ukrainisch-russischen Geschichte zwischen 1917 und 1920 zu entwirren, würden sich wahrscheinlich nicht einmal drei Männer finden. Vierzehn Machtwechsel, so rechnete der Arzt und spätere Romancier Michail Bulgakow vor, habe er in Kiew erlebt. Im Dezember 1919, als Rakowskis Bolschewisten Denikin vertrieben, schien Ruhe einzukehren. Bis sich im Frühjahr 1920 die Gewaltspirale weiter drehte, als die polnische Armee unter Marschall Pilsudski eine „Spezialoperation“ in der Ukraine wagte. Begleitet von Flugzeugen des Geschwaders Kościuszko, aus denen US-Piloten Bomben auf Kiew regnen ließen.

Für die meisten Protagonisten des ukrainischen Dramas nahm das Rendezvous mit der Weltgeschichte kein gutes Ende. Feldmarschall von Eichhorn zerfetzte im Juli 1918 in Kiew die Bombe eines ukrainischen Sozialrevolutionärs. Irina Kachowskaja, die Planerin des Attentats, verschwand im Gulag. Trotzki wurde 1940 im mexikanischen Exil von Stalins Häschern ermordet, Petljura starb 1926 in Paris durch die Hand eines ukrainischen Anarchisten, Rakowski, Antonow-Owsejenko und der „Kijewski“ Pjatakow ging während der „Großen Säuberung“ des sowjetischen Diktators zugrunde.


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