Das Vogelbeobachten ist eigentlich mehr eine Lebensform als ein Hobby“, sagt Arnulf Conradi, ehemaliger Verleger und – das ist in diesem Fall das Wichtigere – begeisterter Vogelbeobachter seit Kindertagen. Damals wurde seinem Vater geraten: „Kauf dem Jungen ein Vogelbuch!“ Doch es waren die dürren Nachkriegsjahre. Da gab es nur „Brehms Tierleben“ – unerschwinglich. Der Junge machte aus der Not eine Tugend und studierte anhand der Erklärungstafeln die Vögel des Kieler Schrevenparks.
Heute engagiert er sich in seiner Wahlheimat in der Uckermark für den Vogelschutz, kauft Flächen für Bodenbrüter auf und hegt sein eigenes kleines Biotop, das ihn an das Schleswig-Holstein der fünfziger Jahre erinnert, ein Land, das es heute wegen der intensiven Flächennutzung so nicht mehr gibt. Conradi ist einer der beiden Protagonisten in Jörg Adolphs Dokumentarfilm „Vogelperspektiven“. Der andere ist Norbert Schäffer, Vorsitzender des Landesbundes für Vogelschutz in Bayern (LBV). Conradi ist für die poetischen, besinnlichen Momente im Film zuständig, Schäffer für die harte Realität und den politischen Kampf. Conradi darf eine „Welt der Emotionen und des Staunens“ zelebrieren, Schäffer bleibt auf dem Boden der Tatsachen. Seine große Sorge: der Zusammenbruch der biologischen Vielfalt. Seine Hoffnung: eine extensive Landwirtschaft mit mehr artenreichen Wiesen.
Zwist um einen Gastbeitrag von Ministerpräsident Markus Söder
Als Lobbyist rückt er Politikern wie Markus Söder auf die Pelle (der im Film auch einen kurzen Auftritt hat), ist bei ÖDP und Grünen zu Gast, feiert mit seinen Verbandsgenossen kleine Triumphe wie etwa die Änderung des Naturschutzgesetzes in Bayern. Als der Ornithologe sich auf einer Redaktionssitzung der Zeitschrift Vogelschutz, des Zentralorgans des LBV, dafür ausspricht, Söder einen Gastbeitrag einzuräumen, er sei ja immerhin der Ministerpräsident, tritt eine der feinen Bruchlinien zutage, die es zwischen primär um die Umwelt Besorgten und primär ideologisch Besorgten immer schon gegeben hat: Dem Naturwissenschaftler Schäffer geht es allein um die Sache: den Artenschutz. Der Redaktionsleitung geht es darum, den Feind zu markieren. Wer genau hinhört, bemerkt zudem: Nicht dem abstrakten Klimaschutz gilt Schäffers Hauptaugenmerk, sondern dem ganz konkreten Artenschutz.
„Vogelperspektiven“ ist der Film zum Weltnaturgipfel, der im Dezember in Montreal stattfand. Etwa 10.000 Vogelarten gibt es auf der Welt. Viele sind bedroht. Neben einheimischen Vertretern wie Eisvogel, Kohlmeise, Spatz, Lumme, Uferschnepfe, Wachtelkönig, Teichrohrsänger und Kuckuck hat der Film auch ein paar Exoten zu bieten. Die spektakulärste der vielen Vogelperspektiven ist eine Zugvogelperspektive – aus der Luft über Burkina Faso. Emotional wird es bei der Auswilderung von Wally und Bavaria, zwei aus Spanien importierten Bartgeiern, Schäffers Herzensprojekt. Ist es möglich, Europas größten Greifvogel nach seinem Aussterben bei uns wieder anzusiedeln?
Einer einleuchtenden Dramaturgie folgt das alles nicht. Reichlich unmotiviert springt Adolph von Orts-terminen mit Politikern zu drögen Verbandssitzungen und von da zurück in die freie Wildbahn. Dabei sollte eigentlich auch ein Dokumentarfilm eine Geschichte erzählen und mehr sein als ein Sammelsurium von Momentaufnahmen. Daß sich der Zuschauer aus Versatzstücken seine eigene Welt zusammenpuzzeln muß, mag postmodernen ästhetischen Konzepten entsprechen, aber vielleicht war es auch einfach so, daß der Regisseur keines hatte.
Am stärksten wirkt der Film von Jörg Adolph, der sich schon bei „Das geheime Leben der Bäume“ (2020) als Naturfreund zeigte, wenn philosophische Reflexionen seinen Bildern Tiefgang verleihen: Warum hält der Kuckuck sich nicht für einen Teichrohrsänger? Wie schafft es ein Vogelschwarm, kunstvollste Muster an den Himmel zu zaubern? Und woher wissen Zugvögel auch ohne Kompaß immer genau, wohin die Reise geht? Davon hätte es gern mehr geben können. Denn alle Ehrfurcht vor der Natur beginnt im Staunen über die Schöpfung.
Kinostart ist am 16. Februar 2023