© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 8/23 / 15. Februar 2023

Kleingedrucktes in der Stadtlandschaft
Geschichte von unten

Ausgerechnet Gedenktafeln schienen dem Verleger Wolf Jobst Siedler die Geschichtslosigkeit Berlins zu belegen. Besonders eine, so bekennt er in seinen Erinnerungen („Wir waren noch einmal davongekommen“, 2004), dicht neben seinem Verlagssitz am Berliner Viktoria-Luise-Platz, brachte ihn in Rage: die Tafel für den Regisseur Billy Wilder (1906–2002). Der habe in dem Haus 1927/28 nur kurz gewohnt und sei damals in der Filmbranche ein noch Unbekannter gewesen. Jahrzehntelang habe man sich nicht um Berlins Vergangenheit geschert, neuerdings aber versuche man „auch die banalsten Orte zu historisieren“. Für Siedler schien solche „Geschichtslosigkeit“ die Kehrseite häßlicher „Gesichtslosigkeit“ zu sein, die sich im Gefolge zahlloser Sünden des Wiederaufbaus in West-Berlin ausbreitete. Der „preußische Liberale“ Siedler sei hier, wie ihm der Publizist Jens Bisky posthum vorhält, im Kampf gegen exzessive „Planungseuphorie“ wohl übers Ziel hinausgeschossen, indem er seine Architekturkritik auf die Gedenkpolitik ausdehnte (Zeitschrift für Ideengeschichte, 1/2023). Gedenktafeln, von denen es heute in Berlin 3.400 gibt, die vor allem an Schriftsteller, Maler, Musiker und Schauspieler erinnern, sprechen als „Kleingedrucktes“ Stadtbewohner als Leser an, das ihnen „Geschichte von unten“ vermitteln wolle. Gerade Gedenktafeln und Stolpersteine trugen seit den späten 1980ern wesentlich dazu bei, daß aus der von Siedler betrauerten „gemordeten Stadt“ eine neu zu entdeckende „Geschichtslandschaft“ geworden sei, die eine „imaginierte Gesellschaft“ der Stadtbewohner repräsentiere. (wm)

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