Nun wird es allmählich auch einigen protestantischen Kirchenleitern und Theologieprofessoren zu bunt: Es mehren sich die Stimmen, die zu der umstrittenen Klimaprotestbewegung „Letzte Generation“ auf Distanz gehen. Ihr stoße der Name „sauer auf“, bekennt sogar die Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Annette Kurschus. Den Zielen der Bewegung würde sie sich anschließen, die konkreten Aktionen des Protests sehe sie aber kritisch. Auch den Namen finde sie befremdlich: „Letzte Generation“ klinge „apokalyptisch, widerspricht jeder Hoffnungstheologie“. Kurschus: „Und ich halte es auch für eine Form von Hybris, von sich zu behaupten, man gehöre zu den Letzten, die noch etwas tun können.“
Ihre Kirche hat allerdings ein Problem. Sie gibt ungeachtet aller Warnungen und Distanzierungen Apokalyptikern noch immer ein Podium. Zur Erinnerung: Vor der im vergangenen November in Magdeburg tagenden EKD-Synode hatte die „Aktivistin“ Aimee van Baalen (23), eine fernseh-bekannte Sprecherin der „Letzten Generation“, auf Einladung des Präsidiums zu den Delegierten gesprochen. Synodenpräses Anna-Nicole Heinrich rief von Baalen später zu: „Wir solidarisieren uns mit euch.“
Das war allerdings noch nicht alles, was sie zu sagen wußte. Ausgerechnet in einem Interview mit dem evangelischen Magazin Chrismon, das einer Reihe von Tageszeitungen beiliegt, rief sie Kirchengemeinden auf, die umstrittene Gruppe „Ende Gelände“ zu unterstützen, die Sachbeschädigungen begeht und für eine Überwindung des Kapitalismus eintritt. Die evangelikale Zeitschrift idea-spektrum aus dem hessischen Wetzlar zeigte sich erstaunt über die Solidarisierung mit Bewegungen, die ganz offen demokratische Prozesse verachten, linksextremistische Tendenzen und sektenhafte Züge haben. Am 30. Januar war Aimee van Baalen in der ARD-Sendung „Hart aber fair“ zu Gast. „Erschreckend war die Ablehnung der parlamentarischen Demokratie“, kommentierte die Leitartiklerin von idea. „Van Baalen forderte einen ‘Gesellschaftsrat’. Dort sollen ‘Bürger’innen’ des Landes zusammenkommen. Ausgelost. Ein Querschnitt der Gesellschaft. Und die Mitglieder dieses Zirkels sollten dann mit Experten rechtlich bindende Maßnahmen gegen die Klimakrise erarbeiten.“ Warum? Weil aktuell die „Interessen Einzelner“ über dem Gemeinwohl stünden, es dominierten „Kapitalinteressen“. O-Ton van Baalen.
Die Aktivistin mit den klassenkämpferischen Versatzstücken verteidigte die Protestformen der „Letzten Generation“ wie das Festkleben auf Straßen oder an Flughäfen. Der Ampelkoalition in Berlin warf sie vor, die Verfassung zu brechen, weil die gesetzlich geregelten CO2-Sparziele nicht erreicht werden: „Wie sollen wir als junge Bevölkerung noch Vertrauen in die Regierung haben?“ Der Vizevorsitzende der FDP-Bundestagsfraktion Konstantin Kuhle zeigte sich konsterniert und konterte kühl: „Die Klimabewegung befindet sich an einem Kipp-Punkt.“
Thorsten Latzel (52), Theologe und Präses der rheinischen Evangelischen Kirche, wehrte sich im Gespräch mit Journalisten gegen den Vorwurf, der „Letzten Generation“ applaudiert zu haben: „Wir haben keiner Organisation applaudiert.“ Er halte nichts davon, Kunst zu beschädigen oder Straßen zu blockieren. „Das ist kontraproduktiv, weil es zur Spaltung beiträgt. Wir brauchen im Klimaschutz den Konsens. Die Sorge um das Klima eint uns, die Mittel trennen uns.“ Latzel: „Die Unterscheidung von Person und Werk ist zutiefst evangelisch.“ Nein, wehrte er alle Vorwürfe ab: Es habe keine Solidarisierung mit der „Letzten Generation“ gegeben. Man habe lediglich den Dialog mit einer Vertreterin dieser Gruppierung gesucht. „Den brauchen wir dringend.“
Die Diskussion kann er freilich nicht bremsen. Immer wieder melden sich evangelische Theologen zu Wort, die das Vorgehen der Protestler unterstützen oder ihm zumindest mit Sympathie begegnen. So etwa Andrea Rückert, eine Pfarrerin im Schuldienst in Gräfelfing bei München. Sie ist eine der Koordinatorinnen der „Arbeitsgemeinschaft (AG) Vernetzung mit den Kirchen“ der „Letzten Generation“. Ziviler Ungehorsam sei als wichtiges Element der Demokratie eng mit Kirche verbunden gewesen, etwa in der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung oder der Friedensbewegung in Deutschland, argumentierte sie. „Es reicht nicht, daß jeder anfängt, klimaneutral zu leben“, sagte Rückert dem Evangelischen Pressedienst.
Einzelne Kirchenvorstände distanzieren sich „aufs Schärfste“ von radikalen Thesen. In einem demokratischen Rechtsstaat dürften nicht einfach Gesetze gebrochen werden, warnten mehrere evangelische Gemeinden in Bayern. Sie lehnten es „strikt ab, daß eine hohe Vertreterin der evangelischen Kirche (gemeint ist Synodenpräses Heinrich, die Red.) ihr Amt dazu mißbraucht, um Pläne für einen Systemwechsel zu befördern“. Ob solche Appelle etwas bewirken? Zweifel sind angebracht. Auch Kirchenpräsidenten wie Volker Jung (Hessen-Nassau) verhehlen nicht ihr Verständnis für die „Letzte Generation“.
Die katholische Kirche zeigt sich zwar resistenter gegenüber den Zeitgeistströmungen, aber auch aus ihr kommen vereinzelt positive Stimmen. So trägt ein Appell zur Unterstützung der Bewegung die Unterschrift von mehr als 1.000 Katholiken. Bischof Georg Bätzing aus Limburg, der Vorsitzende des deutschen Episkopats, fühlt sich durch die Aktivitäten der „Letzten Generation“ gar an die Urchristen erinnert, die sich als die letzte Generation vor Anbruch der Gottesherrschaft verstanden hätten. „Er meint seinen theologisch abwegigen Vergleich offenbar ernst“, konterte der Wiener evangelische Professor für Ethik und Systematische Theologie, Ulrich H.J. Körtner, in der von der EKD herausgegebenen Zeitschrift Zeitzeichen.
Der Religionssoziologe Michael Utsch von der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschaungsfragen in Berlin hat lange den Motiven nachgespürt, die Menschen in die Reihen der „Letzten Generation“ treiben. Er verhehlt nicht, zu welchen Schlüssen seine Beobachtung geführt hat: „Ich sehe Parallelen zu einer Sekte.“ Besonders für Personen ohne Arbeit und Perspektive sei die Bewegung attraktiv. Utsch: „In ihrer Endzeit-Angst lassen die Aktivisten nur solche wissenschaftlichen Studien gelten, die ihre Vorstellungen zum Klimawandel bestätigen.“
Überhaupt nicht befreunden kann sich der katholische Bischof Bertram Meier (Augsburg) mit dem Vorgehen der „Letzten Generation“. Festkleben auf Straßen oder Plätzen hält er nicht unbedingt für ein legitimes Mittel des Protests. „Der gute Zweck heiligt nicht alle Mittel“, warnt Meier. „Kein Mensch ist der Heiland.“ Die Welt werde nicht gerettet durch kühle Rechner und kaltes Kalkül, durch Klebstoff und gewagte Aktionen, sondern durch Liebe.
Auf ähnlicher Ebene argumentiert der Schweizer katholische Theologe Martin Grichting, der sich in Wort und Schrift gegen endzeitliche Szenarien wendet. In der Neuen Zürcher Zeitung schrieb der 55jährige Geistliche Ende Januar: „Denn wenn von Autobahnklebern und Kunstbeschädigern das Recht gebrochen wird, so weist das darauf hin, daß der politische Diskurs verlassen wird mit der Berufung auf ‘höhere Werte’.“ Wohlfeile Apokalyptik könne nicht illegale Mittel heiligen. Man müsse, so das Urteil des Autors, die gegenwärtige klimareligiöse Welle als Absage an das Christentum deuten. Mit Verweis auf einen bekannten Ausspruch des Reichskanzlers Otto von Bismarck („Wir Deutschen fürchten Gott, aber sonst nichts auf der Welt“) schreibt der Theologe aus Chur: „Heute scheint es umgekehrt. Man fürchtet zwar Gott nicht mehr, aber dafür so ziemlich alles in der Welt.“ Das Fürchten sei seiner Beobachtung nach gegenwärtig der „große Treiber“.
Und Grichting vergißt nicht, an die von den Medien hofierte „Klimaschützerin“ Greta Thunberg zu erinnern, die sich 2019 auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos mit der Forderung zu Wort gemeldet hatte: „Ich will, daß ihr in Panik geratet, daß ihr die Angst spürt, die ich jeden Tag spüre.“ Eine solche Äußerung, so Grichting, sei kein Ausweis christlicher Gottesfurcht, sondern diesseitiger Zukunfts- und Todesfurcht. Und der Kirchenmann aus der Schweiz, der die Vorgänge in Deutschland stets mit im Blick hat, folgert daraus: Das so geschaffene Klima sei geeignet, den Boden für „freiheitsentziehende oder gewalttätige Vorgehensweisen zu bereiten“. Es sieht so aus, als habe zumindest in der Zunft der Universitätstheologen ein vorsichtiges Nachdenken über den Weg, den die Kirchen eingeschlagen haben, begonnen.
So ist dem Bochumer Theologieprofessor Günter Thomas nach eigenen Angaben äußerst unwohl, wenn er an die Debatten in seiner evangelischen Kirche denkt. Die Solidarisierung mit der „Letzten Generation“ sei ein „echter Fehler“. In einem Brief an die Synodenpräsidentin Anna-Nicole Heinrich schrieb Thomas, er habe den Eindruck gewonnen, „nicht mehr in die Kirche zu passen, die Sie und die Synode mit großer Überzeugung repräsentieren wollen“. Der Welt sagte er, der „stehende Applaus“ der Synode für die Klimaaktivisten zeige, daß sich die evangelische Kirche in Deutschland „zur Vorfeldorganisation einer radikalen Gruppe machen läßt“.
So deutlich ist das Unbehagen bislang von keinem der EKD-Verantwortlichen artikuliert worden. Inzwischen zeigen sich allerdings mehrere kirchenleitende Persönlichkeiten, wenn auch vorsichtig, bereit, sich von den Umtrieben der „Letzten Generation“ zu distanzieren. Aber ein klares Wort ist bislang ausgeblieben. Das gilt vor allem für die evangelischen Landeskirchen. In einem Brief an die Nachrichtenagentur idea bedauerte ein Pfarrer, daß sich auch die „frommen und pietistischen“ Leiter kaum äußerten. Deswegen, so der Schreiber, sehe er jedes Kirchenmitglied in der Pflicht, aufzustehen, damit sich etwas ändere – in den Gemeinden wie in der EKD-Synode. Es sei nun die Stunde der gemeindlichen Basis gekommen.
Die Synode tritt im November zu ihrer nächsten Sitzung zusammen. Sie könnte für Klarheit sorgen. Wenn sie es nur wollte.