© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 8/23 / 15. Februar 2023

Wissen wertvoll, Werk verzichtbar
Bahnindustrie: Deutsche Standorte in Gefahr / Droht dem Waggonbau Niesky das endgültige Aus?
Paul Leonhard

Ein Wunder ist, daß in Bautzen, Görlitz und Niesky noch immer Straßenbahnen und Waggons gebaut werden. Die sächsisch-niederschlesischen Traditionsunternehmen gehören zwar ausländischen Investoren oder Konzernen wie Bombardier und Alstom, die angesichts der Tariflöhne, der Energiekosten und der immer maroder werdenden Infrastruktur längst zu ihren Niederlassungen in Osteuropa schielen. Doch die kassierten staatlichen Fördermillionen, deren Bindungsfrist bezüglich der garantierten Arbeitsplätze noch nicht ausgelaufen ist, garantieren weiter die Produktion. Aber wie lange noch?

Lohnende Aufträge und das technische Wissen wurden längst an andere Standorte transferiert, Spezialisten wurden durch Leiharbeiter ersetzt. Investitionen finden kaum mehr statt. Die Görlitzer Waggonbauer – derzeit noch 830 Beschäftigte – mußten ihre polnischen Kollegen zunächst anlernen, bevor die Produktion ins schlesische Breslau verlagert wurde. Die anschließend auftretenden Qualitätsprobleme mußten wiederum von den Görlitzern korrigiert werden. Typisch für alle Standorte ist, daß sie von ihren Besitzern ausgeblutet werden. So teilte der französische Alstom-Konzern, der 2021 die Werke Bautzen und Görlitz von der kanadischen Bombardier Transportation übernommen hatte, elf Monate später mit, 400 von 900 Stellen zu streichen. Das Görlitzer Waggonbauwerk habe Kapazitäten, die Alstom nicht mehr brauche, aber Know-how, das wertvoll sei, so der Mitteleuropa-Chef des Konzerns, Müslüm Yakisan, im Tagesspiegel.

Am deutlichsten wird das gegenwärtig im Fall Waggonbau Niesky (WBN), dem letzten deutschen Hersteller von Güterwagen. So richtig gut gegangen ist es dem Traditionsunternehmen, das seit 1917 Schienenfahrzeuge produziert, seit 1990 noch nie. Bis 1945 Teil der Firma Christoph & Unmack und berühmt für seine Straßenbahnen („Großer und Kleiner Hecht“), überlebte das Werk sowjetische Demontage, DDR-Schlendrian und Wendeprobleme. Zwischenzeitlich US-Investoren und dann zu Bombardier-Konzern gehörend, schien vor fünf Jahren der Verkauf an den slowakischen Güterwagenproduzenten Tatravagónka ein Glücksgriff gewesen zu sein. Alle 300 Arbeitsplätze würden erhalten werden, lobte Insolvenzverwalter Jürgen Wallner damals das Ergebnis der Übernahmeverhandlungen.

„Höchste technische und qualitative Anforderungen“

Seit einigen Wochen stehen allerdings die WBN-Arbeiter erneut vor den Werkstoren. Am Dienstag gab es bereits die 14. Mahnwache. Sie fordern Gespräche mit Vertretern des slowakischen Mutterkonzerns. Aber in Poprad, dem einstigen Deutschendorf am Fuße der Hohen Tatra, hüllt man sich in Schweigen, was das Standbein in Niesky betrifft. Wenn potentielle Kunden auf den Tatravagónka-Internetseiten erfahren, daß „dank umfangreicher Investitionen in den letzten Jahren“ die produzierten Güterwagen und Drehgestelle „höchste technische und qualitative Anforderungen“ erfüllen, dann ist keine Rede mehr von deutschem Fachwissen – auch wenn das sehr nach der früheren ELH Waggonbau Niesky klingt, dem einst führenden Güterwagenhersteller Europas mit einer Produktionsfläche von rund 37.000 Quadratmetern.

Gefertigt wurden hier auch Rohbauten aus Aluminium und Stahl für den Personenverkehr sowie „innovative, lärmarme und instandhaltungsfreundliche Drehgestelle“. Modernste CNC-gesteuerte Fräs- und Bohrwerke, Brennschneide- und Abkantmaschinen sowie Schweißroboter gehörten zum Maschinenpark. Bleibt die Frage, wie ein solches Unternehmen überhaupt in eine wirtschaftliche Schieflage geraten kann. Ursache war, daß die Investoren die Gewinne herauszogen und nicht reinvestierten. Letztlich drohte Zahlungsunfähigkeit aufgrund gestiegener Kosten bei wichtigen Aufträgen – Deutschland scheint ohne staatliche Zuschüsse als Industriestandort immer weniger wettbewerbsfähig zu sein.

Das Nieskyer Werk hatte Verträge über den Neubau von 160 Schüttgutwaggons mit einem Auftragsvolumen im niedrigen zweistelligen Millionenbereich, über 149 Autotransportwaggons (mehr als 23 Millionen Euro) und weitere Aufträge im Wert von elf Millionen Euro unter Vertrag. Besonders gefragt waren die Wagen mit den innovativen Drehgestellen der Bauart DRRS25L, die dadurch „nochmals gewichts- und lärmreduzierter und instandhaltungs- sowie energiefreundlicher“ sind, als Wagen mit herkömmlichen Schienenlaufwerken. Daß die Produktion in Asien oder Osteuropa billiger ist, weiß man auch bei der Gewerkschaft. „Der Waggonbau Niesky ist im Prinzip der letzte Güterwagenhersteller Deutschlands“, sagt Eileen Müller von der IG Metall Ostsachsen. Sie warnt, man werde „strategisch Technologie zum Gelingen der Verkehrswende verlieren“. Es sei „eine politisch-strategische Entscheidung“, ob man in Deutschland weiterhin Güterwagen herstellen möchte oder nicht.

Und weil Niesky, Görlitz und Bautzen AfD-Hochburgen sind, hat sich auch CDU-Ministerpräsident Michael Kretschmer eingeschaltet. Er will mit den Slowaken sprechen, allerdings hat man vom Haupteigentümer, dem Russen Alexej Beljajew, seit einem Jahr nicht mehr gehört. Auch Kathrin Michel, Bundestagesabgeordnete und Chefin der SPD Sachsen, bekundete ihre Solidarität. Keine Illusionen hat Kathrin Uhlemann, parteilose Oberbürgermeisterin der Kleinstadt Niesky: Sie weiß, daß zum Jahresende die fünfjährige Standort- und Beschäftigungsgarantie ausläuft, die Tatravagónka unterschreiben mußte. Uhlemann will daher mit der Staatsregierung über alternative Optionen für die Angestellten des Waggonbauers sprechen. Denn noch sind die Braunkohleausstiegsmillionen aus dem Strukturwandelgesetz nicht gänzlich verplant.

 www.waggonbau-niesky.com

 www.tatravagonka.sk