Als im Zuge der ersten Erdölkrise die Verbraucherpreise merklich anzogen, verständigten sich die Gewerkschaften darauf, die ÖTV unter Führung von Heinz Kluncker (SPD) als Speerspitze vorzuschicken. Der Verdi-Vorgänger preßte der öffentlichen Hand – dem Tarifpartner mit dem geringsten Stehvermögen – 1974 eine Lohnerhöhung von elf Prozent ab, nachdem Müllwerker und Straßenbahner drei Tage lang gestreikt hatten. Die nachfolgenden Tarifabschlüsse in der privaten Wirtschaft orientierten sich am ÖTV-Abschluß und leiteten damit die Lohn-Preis-Spirale der siebziger Jahre ein – denn die Inflationsrate betrug im Jahresschnitt 1974 „nur“ 6,9 Prozent. Wiederholt sich nun im Zuge der gestiegenen Energiekosten die Geschichte?
Bei näherem Hinsehen haben wir es heute aber mit einer Preis-Lohn-Spirale zu tun. Die Gewerkschaften orientieren sich bei ihren Lohnforderungen an folgender Formel: Sicherung des Reallohns („Inflationsausgleich“) plus Produktivitätszuwachs und Umverteilungspauschale, die von der jeweiligen Marktsituation abhängt. Gemessen an dieser Formel haben sich die Gewerkschaften in den vergangenen 20 Jahren lohnpolitisch zurückgehalten. Auch hat das vermehrte Warenangebot im Zuge der Globalisierung die Preise stabilisiert. Die Geldwertstabilität der Vergangenheit haben wir aber nicht der EZB-Politik zu verdanken, ihre Staatsanleihekäufe haben für eine Geldschwemme gesorgt.
Null- und Negativzinsen haben den überschuldeten Euro-Mitgliedstaaten den Weg zum Billigstgeld geebnet. Als sich inflationäre Tendenzen zeigten, hat die EZB die Entwicklung einfach laufen lassen. Ihr Ziel war inzwischen nicht mehr, den Geldwert stabil zu halten, sondern die Eurozone zusammenzuhalten. Nach zu langem Zögern erhöhte die EZB die Leitzinsen – doch da war es schon zu spät. Als dann wegen des Energieembargos der EU gegenüber russischem Gas und Öl die Energiepreise stiegen, konnten diese Kostensteigerungen weitgehend an die Abnehmer weitergereicht werden. Dies galt auch für die Ernährungsindustrie. Die Preise für Güter des privaten Verbrauchs stiegen mit 7,9 Prozent im Jahresschnitt so stark wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Entsprechend sank die Kaufkraft der gestiegenen Tariflöhne im Jahre 2022 um 4,1 Prozent – das war ein negativer Rekordwert!
Der jüngste Tarifabschluß in der deutschen Metallindustrie erscheint mit 8,5 Prozent – angesichts der bisher gewohnten Vereinbarungen – außergewöhnlich hoch. Vergleicht man ihn aber mit der zuvor erwähnten gewerkschaftlichen Verhandlungsposition, so erscheint der IG-Metall-Abschluß maßvoll. Es ist zu berücksichtigen, daß die Gewerkschaften den Kaufkraftverlust ihrer Mitglieder aus dem Vorjahr und die zu erwartende Preissteigerung in Anschlag bringen müssen, um gegenüber Mitgliedern nicht das Gesicht zu verlieren. Doch muß ihnen bewußt sein, daß sie keinen vollen Ausgleich für den Kaufkraftverlust verlangen können, ohne die Sicherheit der Arbeitsplätze zu gefährden.
Die Unternehmen leiden ebenfalls unter den gestiegenen Energiekosten, die sie nicht gänzlich im Preis weitergeben können. Der Ukrainekrieg und die Embargos gegenüber Rußland mindern generell unsere Kaufkraft. Darunter leiden Arbeitnehmer wie Arbeitgeber.