© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 8/23 / 15. Februar 2023

Grüße aus … Neu-Delhi
Verseuchte, aber heilige Wasser
Konrad Markward Weiß

Mit für indische Verhältnisse schlappen geschätzt 1,8 Millionen drängt sich die Einwohnerzahl Hamburgs auf einem Zehntel von Varanasis Fläche. Dazu kommen selbst im Stadtzentrum auf Schritt und Tritt freilaufende Ziegen, Hunde, Affen – und natürlich Kühe, die auch mitten im Gewühl der Hauptgeschäftsstraße ungerührt wiederkäuen. Den Weg säumen unzählige Hindutempel, mitsamt der allgegenwärtigen Swastika. Vor den blumengeschmückten, mit knalloranger Fettpaste gesalbten Heiligtümern versehen die „Sadhus“ ihre Rituale – halbnackte Mönche mit Gesichts- und Körperbemalung, langen Bärten und Dreadlocks.

Die Pilgermassen in der heiligsten Stadt des Hinduismus aber scheinen nur ein Ziel zu kennen: In Varanasi führen alle Wege zum Ganges. Immer wieder teilt sich die Menge, wenn ein bloß in Tücher gehüllter Leichnam über die steinernen Stufen der „Ghats“ ans Ufer getragen und vor der Einäscherung in den schmutzigbraunen heiligen Fluß getaucht wird. 

Fast wie früher in der Stammtischrunde gibt es zum Frühschoppen ein Schluck aus „Mutter Ganga“.  

Noch spätnachts lodern Dutzende Scheiterhaufen; gegen den Rauch, den Smog und den vom Ganges aufsteigenden Nebel kommt das diffuse gelbliche Licht der Laternen an den inzwischen menschenleeren Ghats trotzdem kaum an. Bei Sonnenaufgang baden dort wieder die ersten Pilger in den chemisch und bakteriell hochgradig verseuchten heiligen Wassern – und Einheimische, von denen sich viele allmorgendlich in derselben Besetzung an ihrem Stammplatz einfinden. Hinterher wird angeregt über weltliche Obliegenheiten geplaudert – fast wie früher in unseren Breiten eine Stammtischrunde beim Kirchenwirt. In Varanasi jedoch gibt es zum Frühschoppen ein Schlückchen aus „Mutter Ganga“. Nicht weit davon streunen hungrige Straßenhunde um die noch glosenden Scheiterhaufen und stochern darin herum, suchend ...

An der Spitze der wirtschaftlichen Nahrungskette Indiens stehen Bombay und der dort ansässige riesige Konzern Tata, gegründet und bis heute geführt von Angehörigen der winzigen Religionsgemeinschaft der Parsen. Von den Hanging Gardens geht der Blick talwärts auf die noble Uferpromenade und nach oben auf kreisende, wohlgenährte Geier: Nebenan legen die Parsen in den nach oben offenen „Türmen des Schweigens“ ihre Toten ab. Sie werden binnen kürzester Zeit von den Geiern bis auf die Knochen abgenagt, und diese ohne weiteres Federlesens in einen tiefen Schacht geworfen.

Indien ist überwältigend, im besten Sinne, nicht zuletzt seiner Religionen wegen – aber gerade ihretwegen mitunter auch beklemmend. Mit einem erstaunlichen Nebeneffekt: Als Wiener Katholik wegen des zuvor Erlebten eine indische Moschee beinahe schon mit einem Seufzer heimeliger Vertrautheit zu betreten, kam doch unerwartet.