Wer als Tourist die Länder der Arabischen Halbinsel bereist, erlebt ein ganz anderes Arabien, als er es von seinen persönlichen Erfahrungen mit Arabern in Deutschland gewohnt ist. Die Vereinigten Arabischen Emirate, vor allem Dubai und Abu Dhabi, aber auch Katar, Bahrein, Kuwait und der Oman präsentieren sich als relativ reiche Länder, die ihre Einnahmen aus dem Öl- und Gasexport entschlossen zur Verbesserung ihrer Infrastruktur einsetzen.
Mittlerweile befinden sich diese Länder bereits in einem noch weiter gehenden Transformationsprozeß hin zu einer Ära jenseits des Öls.
Dieser Wind des Wandels hat inzwischen auch Saudi-Arabien erreicht, das bislang in der Welt als Paradebeispiel für ein ultraorthodoxes, islamisches Staatswesen wahrgenommen wurde. Dieses Staatswesen beruht auf zweierlei: politisch auf der autokratischen Herrschaft des Hauses Saud und religiös auf der Islaminterpretation des Wahhabitentums samt Scharia, Todesstrafe, Steinigung und Ausschluß der Frau aus dem öffentlichen Leben.
Das alles soll es nun in dieser extremen Form nicht mehr geben. Unter der Führung des saudischen Kronprinzen und Premierministers Mohammed bin Salman soll im Zuge der „Vision 2030“ ein neues, effektiveres und weltoffeneres Saudi-Arabien entstehen. Und zwar nicht wegen einer neu entdeckten Liebe zur Liberalität, sondern aus ganz praktischen Erwägungen. Denn das Land wird schon mittelfristig die opulente Versorgung der eigenen Bevölkerung nicht mehr gewährleisten können. Noch gibt es keine Einkommenssteuer, noch sind die Krankenversorgung und die Bildungseinrichtungen kostenlos, und ein Heer von Gastarbeitern erledigt die härtesten Arbeiten. Aber dieser Luxus wird auf Dauer nicht zu finanzieren sein.
Deswegen umfassen die Reformen alle Bereiche von Politik und Gesellschaft. Im Mittelpunkt steht der Ausbau der Infrastruktur mit den Öleinnahmen des Staatskonzerns Saudi Aramco. Es geht um den Bau von Straßen, Häfen, Finanzzentren und um die Ansiedlung von Technologiefirmen, den Abbau des hohen Beschäftigungsstandes beim Staat und die Förderung privater Investitionen. Nach und nach sollen die Gastarbeiter durch eine sogenannte „Saudisierung der Wirtschaft“ ersetzt werden, was im Klartext bedeutet, daß die Saudis in Zukunft ihre Autos selber waschen, ihre Rasen selber mähen und natürlich auch ihre Software selbst entwickeln sollen.
Ein ganz heikles Kapitel ist das damit verbundene, vorsichtige Zurückdrängen der Religion. Offiziell wird am Islam als Staatsreligion natürlich nicht gerüttelt, aber die Summe einzelner Reform-maßnahmen führt doch schon ein Stück weit weg vom orthodoxen wahhabitischen Islam – wie etwa das Ende des Vermummungsgebots für Frauen in der Öffentlichkeit, die Abschaffung der Verhaftungsbefugnis der Religionspolizei, obgleich es sie noch immer gibt, die Möglichkeit der Scheidung für Frauen, das Recht auf den Erwerb eines Führerscheins, eines eigenen Passes und unter gewissen Voraussetzungen auch einer eigenen Wohnung für Frauen.
Zentraler Brückenkopf der US-amerikanischen Nahost-Politik
Auch das Strafrecht wurde abgemildert. Das Auspeitschen wurde abgeschafft, ebenso die Todesstrafe, diese allerdings nur für Minderjährige. Nicht das zentralste, aber das auffälligste Kennzeichen des Wandels ist die Öffnung Saudi-Arabiens für den Tourismus. Was vor wenigen Jahren noch unvorstellbar schien, ist nun Wirklichkeit geworden: Seit zwei Jahren legen Kreuzfahrtschiffe an den Häfen des Roten Meeres an, und westlichen Touristen ist es erlaubt, die heilige Stadt Medina zu besuchen.
Die Tendenz all dieser Reformen ist eindeutig. Es geht um den stärkeren Einbezug der eigenen Man Power bei der Wertschöpfung von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft. Die ältere Generation mag sich noch an ihren Pfründen laben, für die junge Generation wird Schluß sein mit dem bequemen, hochbezahlten Job beim Staat. Das Leben für den Einzelnen wird härter werden, es wird Verlierer geben, und möglicherweise werden Unruhen drohen.
Deswegen – und das ist die Schattenseite der Reformen – wird der Wandel In Saudi-Arabien von einer rigiden politischen Kontrolle begleitet. Mit anderen Worten: Oppositionelle haben nichts zu lachen im Lande des Reformers Mohammed bin Salman – und wie der Fall Kashoggi zeigte, auch nichts im Ausland. Der oppositionelle Journalist Jamal Kashoggi wurde 2018 bei einem Besuch in der saudischen Botschaft in Istanbul festgehalten, gefoltert und getötet, was weltweites Aufsehen erregte, und Mohammed bin Salman, ohne dessen Genehmigung dieser Vorgang niemals hätte stattfinden können, stand plötzlich am Schandpfahl der Weltöffentlichkeit.
Aber das ist nun auch schon ein paar Jahre her, einige Sündenböcke in Saudi-Arabien wurden bestraft, und im Grunde niemand spricht mehr darüber. Unlängst kam es sogar wieder zu einem Treffen zwischen Mohammed bin Salman und US- Präsident Joe Biden. Zu stark ist die gegenseitige Abhängigkeit, als daß ein politischer Mord – sei er auch noch so spektakulär – die langfristigen geopolitischen Koordinaten verrückten könnte. Denn Saudi-Arabien ist ein zentraler Brückenkopf der US-amerikanischen Nahostpolitik, und das Haus Saud ist gegenüber dem iranischen Erbfeind auf militärischen Schutz angewiesen. Im Ernstfall wäre Saudi-Arabien mit seinen 35 Millionen Einwohnern, trotz der Hochrüstung mit amerikanischen Waffen, dem Iran mit seiner Bevölkerung von fast einhundert Millionen Menschen schwerlich gewachsen. Die latenten Spannungen zwischen Saudi-Arabien und Iran haben sich im Jemen bereits zu einem veritablen Stellvertreterkrieg ausgewachsen, unter dem die jemenitische Bevölkerung in unvorstellbarem Maße leidet. Gleichwohl ist das Mißtrauen zwischen Saudis und Amerikanern gewachsen. Die Saudis haben nicht vergessen, wie schnell die Amerikaner während des Arabischen Frühlings jahrzehntelange Verbündete wie den ägyptischen Präsidenten Husni Mubarak fallenließen.
Das Reformprojekt „Vision 2030“ steht also durchaus in einem fragilen Spannungsfeld widerstreitender äußerer und innerer Kräfte, auch was das Verhältnis zur ultraorthodoxen Geistlichkeit des wahhabitischen Islams betrifft. Transformationsprozesse können auch scheitern, wie das Beispiel des Irans zeigt. Im Iran hatte Schah Reza Pahlevi in den 1960er und 1970er Jahren versucht, sein Land in die Moderne zu katapultieren und war zum Staunen der Welt durch eine religiöse Revolution hinweggefegt worden.
Aber was wären die Alternativen? Eine zu schnell vorangetriebene Demokratisierung würde mit Sicherheit die Einheit des Landes gefährden. Unter diesen Umständen ist nicht zu erkennen, wie der Wandel ohne Autokratie gelingen könnte, vor allem was die Kontrolle der eigenen Eliten und des fundamentalistischen Islams betrifft. Es bleibt nur zu hoffen, daß irgendwann, wenn die Reformen Wirkung zeigen, in einem zweiten Reformschritt, vielleicht „Vision 2035“ oder „Vision 2040“ der Weg auch zu mehr Demokratie führen wird. Aber auch das nur Inschallah, wenn Gott will.