Lange herrschte gespenstisches Schweigen zu den Sprengungen der Nordstream-Pipelines. Der investigative US-Journalist Seymour Hersh hat es jetzt mit seiner am 8. Februar 2023 veröffentlichten Enthüllungsstory durchbrochen. Danach tragen die USA und Norwegen die Schuld für einen Terroranschlag, der sich gegen Deutschland richtet.
Die USA müßten „der Welt verantwortungsbewußte Erklärungen liefern“, greift prompt die chinesische Regierung den Fall auf. Mao Ning, Sprecherin des Auswärtigen Amtes der Volksrepublik China, reagiert damit auf Hershs Enthüllungsbericht. Bereits Ende Januar, kaum fünf Monate in ihrem neuen Amt aktiv, hatte Ning verkündet, nicht Rußland, sondern „die USA sind es, die den Ukraine-Konflikt ausgelöst haben“. Der 85jährige Pulitzer-Preisträger heizt mit seinem Aufsatz („How America Took Out The Nord Stream Pipeline“) mehr als nur die Debatte um die Lösung des Falls um die rätselhaften Explosionen in der Ostsee an.
Hersh ist kein Unbekannter. Er erlangte seit den 1970er Jahren mit zahlreichen Enthüllungsgeschichten insbesondere über US-Kriegsverbrechen in Vietnam und Kambodscha sowie dem Irak weltweit Berühmtheit. Sein journalistischer Stil stieß allerdings auch auf Kritik, da Hersh bevorzugt anonyme Quellen zitiert und die gängige „Zwei-Quellen-Regel“ ignoriert, welche besagt, daß stets zwei Quellen unabhängig voneinander ein Ereignis bestätigen müssen. Von großen westlichen Medienhäusern wird sein neuester Beitrag zu Nordstream von daher abgewertet. Auch in diesem beruft sich Hersh lediglich auf eine einzige anonyme Quelle, die dafür umfangreiches Wissen aufbot. Die Medien wollten am liebsten, daß er seine Quelle preisgibt, „damit er im Gefängnis landet“, sagte Hersh eine Woche später in einem Interview. „Was das Ende meiner Karriere bedeuten würde. Ich mache das seit 50 Jahren. Ich schütze meine Leute. Ich stehe jetzt im Kreuzfeuer, aber das ist mein Job.“
Pulitzer-Preisträger hat Quelle, die die US-Täterschaft beweist
So habe laut Hershs Informant die Planung zum Anschlag auf die Pipelines bereits neun Monate vor der eigentlichen Tat – und somit auch zwei Monate vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine – begonnen. Und dies unter strengster Geheimhaltung: Denn wenn der Angriff auf die Vereinigten Staaten zurückgeführt werden könnte, so Hershs Quelle, so würde er als „eine Kriegshandlung“ gewertet werden können. Unter direkter Order des US-Präsidenten Joe Biden hätten sich seit Dezember 2021 der Nationale Sicherheitsberater Jake Sullivan, US-Außenminister Antony Blinken sowie Victoria Nuland, die Staatssekretärin für politische Angelegenheiten, zu einer Arbeitsgruppe getroffen, um eine mögliche Stillegung der Nordstream-Pipelines zu debattieren. Im Vorfeld des Jahres 2021, bescheinigt Hersh, sei Bidens Anliegen, Nordstream 2 auf diplomatischem Weg zu verhindern, eklatant gescheitert. Angela Merkel, so der US-Journalist, „übte enormen politischen und wirtschaftlichen Druck aus, um die zweite Pipeline in Betrieb zu nehmen“.
Bereits im März 2021 hatte Blinken im Namen Bidens erklärt, Nordstream 2 sei „ein schlechtes Geschäft – für Deutschland, für die Ukraine und für unsere osteuropäischen Partner und Alliierten.“ Und noch Anfang Februar 2022 bestätigte der US-Präsident auf die Frage eines Reporters, wie die USA die Pipeline stoppen wollten, da diese ja „unter Deutschlands Kontrolle“ läge: „Ich verspreche Ihnen, wir werden dazu fähig sein.“ Bundeskanzler Olaf Scholz stand daneben und pflichtete treuherzig bei: „Alle notwendigen Schritte werden von uns zusammen gegangen werden.“ Biden: „Wenn Rußland wieder in die Ukraine einmarschiert, dann wird es Nordstream 2 nicht mehr geben. Wir werden dem ein Ende setzen.“
Mehrere Pläne des dreiköpfigen, vom US-Präsidenten einberufenen Arbeitskreises seien davor erarbeitet und wieder verworfen worden, so läßt Hersh seinen Informanten erzählen: Unter anderem der Angriff mit einem U-Boot sowie Sprengladungen mit zweitägigen Zeitzündern, die am Ende des Nato-Ostseemanövers (Baltops) plaziert werden sollten. Das Manöver organisierten die USA, und es fand vom 5. bis zum 17. Juni 2022 statt. Schlußendlich, so Hersh, entschieden sich die Planer für ferngezündeten C4-Sprengstoff. So konnten die Militärs zwischen dem Baltops-Manöver und der Zündung eine große zeitliche Distanz schaffen. Involviert in den Anschlag soll neben der US-Marine, welche die Taucher stellte, und der CIA auch der norwegische Geheimdienst gewesen sein. Der US-Kongreß wurde aufgrund „strengster Geheimhaltung“ nicht in das Vorhaben eingeweiht. Norwegische Agenten sollen dann eine Sonarboje aus einem Flugzeug abgeworfen und so die Sprengsätze dreieinhalb Monate später mit den bekannten Folgen ausgelöst haben.
Die wirtschaftlichen Folgen sind gigantisch. Allein am Nordstream-1-Leck strömten mehr als eine halbe Million Tonnen Methangas ins Meer. Und auch wenn beide Pipelines während des Vorfalls nicht in Betrieb waren – Nordstream 2 war noch nicht zertifiziert, Nordstream 1 aufgrund von Wartungsarbeiten durch die russische Betreiberfirma Gazprom vorübergehend stillgelegt –, so ist der wirtschaftliche Schaden ebenso von Belang. Für die Reparatur der Havarie ist immerhin der russische Staatskonzern Gazprom als Träger der Pipeline selbst zuständig.
US-Präsident Biden hatte den Pipeline-Stopp offen angekündigt
Die Einnahmen aus dem Nordstream-Geschäft, so Experten, hätten dem russischen Staat bis zu 45 Prozent seines Gesamthaushalts ausmachen können. Und auch die europäischen Partner aus Deutschland, den Niederlanden sowie Frankreich mußten nach dem Vorfall auf teurere Alternativen umschwenken, deren Mehrkosten an die privaten wie industriellen Bezugskunden umgelegt werden. Die beiden Pipelines hätten insbesondere Deutschland mit etwa 50 Prozent des benötigten Gases versorgt.
Noch immer ist unklar, was genau zur Zerstörung führte. Die aktuell öffentlich bekannten Fakten besagen lediglich, daß am 26. September vergangenen Jahres zwischen zwei Uhr in der Früh und 19 Uhr abends mindestens vier Explosionen den Ostseeboden in achtzig Meter Tiefe und exakt den Positionen der Nordstream-Pipelines erschütterten, in deren Folge drei der vier Rohre gekappt wurden. Strang A der jüngeren Röhren von Nordstream 2 wurde dabei zweifach beschädigt. Später sollten die Behörden Sprengstoffreste sicherstellen. Die Explosionen erfolgten in den ausschließlichen Wirtschaftszonen Dänemarks sowie Schwedens. Beide Staaten entsandten daraufhin Inspekteurteams an die Unglücksstelle, ohne jedoch russische Experten in die Untersuchungen mit einzubeziehen. Die schwedische Behörde für Verteidigungsforschung sprach in diesem Zusammenhang von „Ländern, mit denen wir nicht zusammenarbeiten wollen“.
Der russische Präsident Wladimir Putin, von westlichen Stellen als Auftraggeber eines Anschlags auf die Pipelines beschuldigt, sprach in der Folge von einem „terroristischen Angriff“ der USA sowie Großbritanniens, „um die Energiesicherheit des gesamten Kontinents zu untergraben“. Unabhängig ermittelt die russische Generalstaatsanwaltschaft derzeit im Verdacht um „internationalen Terrorismus“ und verspricht einen eigenen Bericht bis spätestens zum Jahrestag der „militärischen Spezialoperation“; sprich: des Einmarschs russischer Truppen in die Ukraine vom 24. Februar 2022. „Es ist ganz offensichtlich“, wirft Marija Sacharowa, Sprecherin des russischen Außenministeriums, den beiden nordeuropäischen Ländern vor, daß ihre Behörden nicht daran interessiert sind, die Verantwortlichen zu ermitteln, sondern „ganz im Gegenteil, Informationen, Fakten und Beweise zu verbergen“. Am 12. Januar 2023 kritisierte Sacharowa laut Reuters Schweden erneut wegen mangelnder Transparenz bei der Nordstream-Untersuchung. Sie bezeichnete die Zusammenarbeit Schwedens mit den russischen Staatsanwälten als „verwirrend“ und beschuldigte das Land, Fakten zu verheimlichen aus Angst, daß russische Ermittler „in einer objektiven Untersuchung zu einer unbequemen Schlußfolgerung“ kommen.
Hämisch griff am 30. Januar der russische Außenminister Sergej Lawrow eine Erklärung der US-Unterstaatssekretärin für politische Angelegenheiten Victoria Nuland, die offen ihre Freude über die Beschädigung der Nordstream-Pipelines zum Ausdruck gebracht hat, als „amüsant“. Nuland habe vor dem Kongreß zugegeben, daß das Außenministerium, viele Senatoren und sie persönlich froh darüber seien, daß die Nordstream-Pipelines zu Metallschrott auf dem Ostseeboden geworden sind, so Lawrow.
Hershs Bericht stieß kaum überraschend in Rußland auf großes Interesse. Einer Einladung der russischen Staatsduma zeigte sich der US-Journalist nach Angaben der Nachrichtenagentur Tass bereits offen; kriegsbedingt allerdings besser „zu einem späterem Zeitpunkt“.
Die US-Regierung dementierte Hershs Blogbeitrag hingegen rasch. „Das ist reine Fiktion“, sagte die Sprecherin des Nationalen Sicherheitsrates der USA, Adrienne Watson. Der Geheimdienst CIA bezeichnete die Behauptungen Hershs als „völlig falsch“. Dies war nach Angaben der schwedischen Aftenposten auch die Reaktion des norwegischen Außenministeriums. Denn Hersh hatte Norwegen als Partner der USA ins Zwielicht gerückt. Dessen „Behauptungen sind falsch“, erklärte das Außenministerium vergangene Woche der Nachrichtenagentur AFP.
Seymour Hersh, Jahrgang 1937, ist ein US-amerikanischer Investigativjournalist. Er war bis 2015 regelmäßiger Mitarbeiter beim Wochenmagazin The New Yorker. Hersh wurde 1969 bekannt, als er während des Vietnamkriegs die US-Kriegsverbrechen in My Lai aufdeckte. 2004 publizierte er während des Irak-Krieges zum Folterskandal der US-Armee in Abu-Ghuraib. https://seymourhersh.substack.com/p/how-america-took-out-the-nord-stream
Verlauf der Pipeline-Rohre
Die Stränge verlaufen meist außerhalb der Hoheitsgebiete der Ostseeanrainer. Die Anschläge geschahen aber innerhalb der ausschließlichen Wirtschaftszone Dänemarks. Das nordische Königreich ist dort für die Abwehr von Gefahren sowie die Beseitigung von Störungen der öffentlichen Sicherheit zuständig.