Thomas Mann. „Wahrhaft unterhaltsam ist nur das Ausführliche“. Dieses Diktum des Epikers Thomas Mann muß ein Biograph wohl vollauf verinnerlichen, will er über die literarische Weltmacht aus Lübeck 1.500 Seiten zu Papier bringen. Und doch ist Dieter Borchmeyer hinter älteren Extremsportlern auf dem Felde der Thomas-Mann-Biographik wie Peter de Mendelssohn (1975–1992, unvollendet, trotz der 2.400 Seiten) und Klaus Harpprecht (1995, 2.252 Seiten) um einiges zurückgeblieben. Man darf daher schon mit Blick auf solche Vorgänger ein Fragezeichen hinter die Verlagswerbung setzen, der zufolge der emeritierte Heidelberger Germanist hier „die erste umfassende Darstellung des dichterischen und essayistischen Werks des Nobelpreisträgers im Kontext der geistigen Situation seiner Zeit“ vorlegt. Zumal „umfassend“, gerade soweit es die Behandlung des eminent politischen Autors Thomas Mann angeht, bei Borchmeyer, der notorisch vom „Faschismus“ schreibt, wenn er den Nationalsozialismus meint, nicht gleichbedeutend mit „zeithistorisch gründlich informiert“ ist. Gleichwohl ist der Mut zu loben, mit dem der Verfasser jedem niederdrückenden Kulturpessimismus getrotzt und darauf vertraut hat, auch im digitalen Zeitalter noch ein Lesepublikum zu erreichen, das die Welt als einen von den Buddenbrooks und ihrem Gefolge besiedelten Zauberberg wahrnehmen will. (wm)
Dieter Borchmeyer: Thomas Mann. Werk und Zeit. Insel Verlag, Berlin 2022, gebunden, 1.551 Seiten, Abbildungen, 58 Euro
Deutschlandbilder. Die Studentin Yan Bian weilte drei Jahre als Au-Pair im „Land der Tugend“, so die chinesische Bezeichnung für den Staat mitten „in diesem kleinen Kontinent Europa, aus dem der vielgescholtene ‘Weiße Mann’ hervorging“, dessen hervorgebrachte „Weltreiche, die Industrielle Revolution und so viele Erfindungen für Chinesen Grund zur Bewunderung“ sind. Mit liebevollem Staunen schildert sie ihre gewonnenen Eindrücke über „traumhaft schöne Landschaften wie aus dem Poesiealbum“, die deutsche Küche, die samt Döner, Kassler & Sauerkraut erstaunlich gut wegkommt – bis auf den „widerwärtigen verschimmelten Käse“, und die Deutschen mit ihrem „sezierenden und trennenden Denken“. Dessen analytische Kraft sei zwar ideal fürs wissenschaftliche Arbeiten, wirke aber eher störend „im Bereich zwischenmenschlicher Beziehungen und bei moralischen Wertmaßstäben“. Amüsant, teils messerscharf sind Bians Beobachtungen über Mütter auf Lastenfahrrädern, Chinarestaurants oder die bemitleidenswerten „Báizuo“, womit „progressive Westler“ gemeint sind, „die fremde Kulturen über alles stellen, ihre eigene Kultur aber verachten“. (bä)
Yan Bian: Land der Tugend. Eine junge Chinesin erlebt Deutschland. Sprachenstadt Verlag, Bonn 2022, broschiert, 128 Seiten, 9,95 Euro